Die Nachricht vom Tod des Hisbollah-Anführers Hassan Nasrallah erschüttert den Nahen Osten. Der Spiegel-Journalist Christoph Reuter ist derzeit in der libanesischen Hauptstadt Beirut. Er berichtet aus einer Stadt der Kontraste: Schockstarre dort, wo die Bomben fallen. Und so etwas wie Alltag im Rest der Metropole.
SRF News: Was löst die Nachricht von Nasrallahs Tod in Beirut aus?
Christoph Reuter: Das hängt vom Empfänger ab. Hisbollah-Mitglieder fahren auf ihren Vespas umher und versuchen die Menschen davon abzuhalten, Dahieh zu verlassen, die Hochburg der Miliz. Sie haben Tränen in den Augen. Im Osten Beiruts waren Schüsse zu hören – es dürften Freudenschüsse gewesen sein. So gespalten wie das Land ist, sind auch die Reaktionen auf Nasrallahs Tod.
Sie waren am Freitag dort, wo sich das mutmassliche Hauptquartier der Hisbollah befand. Was haben Sie angetroffen?
Wir waren rund vier Stunden nach dem israelischen Luftangriff dort. In der Luft lag noch immer ein stechender Geruch, der an Tränengas erinnerte. Dutzende Feuerwehrleute waren im Einsatz. Sie waren aber überhaupt nicht für solch einen Einsatz ausgerüstet. Die Ein-Tonnen-Bomben der Israelis haben gewaltige Detonationen ausgelöst und ganze Häuserblocks verschwinden lassen. In der Strasse waren Krater, noch weit entfernt stürzten Tunnels ein.
Die Flüchtlinge lagern nun in anderen Teilen Beiruts, am Strand, auf den Sportplätzen, in den Parks, vor den Moscheen.
Die libanesische Armee steht gewissermassen zwischen den Fronten und ist jeweils dafür zuständig, Strassen zu sperren, damit es nicht zu Plünderungen oder irgendwelchen Kurzschlussreaktionen kommt. Ich habe erwartet, dass die Hisbollah-Mitglieder ausser sich vor Wut sein würden. Aber die Stimmung war seltsam ruhig und gedrückt, als ob sie alle komplett unter Schock stünden.
Heute Nachmittag war in Dahieh kein Mensch mehr auf der Strasse. Alle waren weg, als wir dort durchgerast sind. Über den Tag hinweg gab es dort weitere Bombardements. Die Flüchtlinge lagern nun in anderen Teilen Beiruts, am Strand, auf den Sportplätzen, in den Parks, vor den Moscheen. Ganze Familien liegen an der Uferpromenade Beiruts auf dünnen Schaumstoffmatratzen. Neben ihnen sind die Angler, die dort jeden Tag stehen, und angeln einfach weiter.
Wie geht es mit der Hisbollah jetzt weiter?
Die grosse Frage ist, ob jetzt das passiert, wovor fast zwölf Monate lang alle gewarnt haben: Setzt die Hisbollah nun ihr Arsenal an weitreichenden Mittelstreckenraten mit Sprengköpfen von bis zu einer Tonne ein? Es ist komplett unklar, was die verbliebenen Feldkommandanten jetzt tun werden.
Jetzt stehen die Israeli vor einer womöglich fragmentierten Bewegung mit einem irren Waffenarsenal, die niemand mehr unter Kontrolle hat.
Ebenso wenig lässt sich einschätzen, ob diese Miliz und Partei in der heutigen Form erhalten bleibt. Unter der 32 Jahre andauernden Führung von Nasrallah schien die Organisation monolithisch und geschlossen. Es könnte sein, dass sich die radikaleren Teile der Hisbollah aus der Bekaa-Ebene nun abspalten. Sie drängen auf Vergeltung und militärische Aktionen.
Die Israeli haben es zwar geschafft, ihren erklärten Erzfeind im Libanon umzubringen. Andererseits haben sie den einzigen Menschen ausgeschaltet, der die Hisbollah kontrollieren konnte. Jetzt stehen die Israeli vor einer womöglich fragmentierten Bewegung mit einem irren Waffenarsenal, die niemand mehr unter Kontrolle hat.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.