Zehntausende Menschen sind nach Beginn der israelischen Luftangriffe in Libanon auf der Flucht. Es bahne sich eine humanitäre Katastrophe an, sagt die freie Journalistin Meret Michel.
SRF News: Wie ist die Lage derzeit in Libanon?
Meret Michel: Sehr schwierig. Die Lage eskaliert derzeit mit einer solchen Geschwindigkeit, dass man kaum abschätzen kann, was in den nächsten Tagen noch alles geschehen wird. Im Süden Libanons und in der Bekaa-Ebene im Osten geht das Bombardement durch Israel weiter. Allein am Sonntag wurden dort mehr als hundert Menschen getötet. In Beirut selber hat insbesondere der nächtliche Angriff auf ein Wohnhaus im sunnitischen Viertel Angst in der Bevölkerung ausgelöst. Die Menschen wissen nicht, ob der Ort, an dem sie sich aufhalten, sicher ist.
In Libanon gibt es keine Schutzkeller – gibt es Orte, die trotzdem sicher sind?
Beirut ist in politisch und konfessionell geprägte Quartiere aufgesplittert. Bislang hatten sich die Angriffe Israels auf jene Quartiere beschränkt, in denen die schiitische Hisbollah präsent ist. Die Menschen sind von dort deshalb in Richtung Norden und Stadtzentrum geflohen. Viele suchten Zuflucht auf den zentralen Plätzen der Stadt sowie an der Strandpromenade.
Man muss von einer Massenflucht und einer humanitären Katastrophe sprechen.
Auch Schulhäuser wurden zu Unterkünften für Flüchtlinge umfunktioniert, sind inzwischen aber völlig überlastet. Vielerorts gibt es keinen Strom, es fehlt an Matratzen. Der libanesische Staat ist nicht in der Lage, die Menschen auf der Flucht zu versorgen. Man muss von einer Massenflucht und einer humanitären Katastrophe sprechen – denn bereits haben mehr als eine Million Menschen ihr Zuhause verlassen und befinden sich auf der Flucht.
Wie sieht es derzeit in Beirut aus?
Ich war an der Strandpromenade, wo viele Vertriebene ausharren. Die Menschen schlafen auf Decken und Matratzen auf den Gehwegen, viele von ihnen stehen sichtbar unter Schock. Auch in der Stadt selber werden manche Viertel völlig überlaufen von Menschen auf der Flucht. Ganz allgemein sind sehr viele Menschen in der Stadt unterwegs, viele im Auto. Man spürt geradezu, wie voll die Stadt mit Menschen geworden ist.
Viele Menschen sind nun schon das zweite Mal auf der Flucht. Was erzählen sie?
Ich habe mit mehreren Familien an der Strandpromenade gesprochen. Eine von ihnen war offensichtlich stark traumatisiert, die Leute konnten kaum etwas sagen. Trotzdem erfuhr ich, dass sie am Donnerstag vor den israelischen Bombardements aus der Bekaa-Ebene geflohen waren. Sie kamen ins schiitische Quartier Beiruts im Süden der Stadt. Nach dem massiven Angriff auf Wohnhäuser dort, bei dem unter anderem Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah getötet wurde, flohen sie weiter in den Norden der Stadt und strandeten schliesslich an der Promenade am Meer.
Mehr als eine Million Flüchtlinge aus Syrien können jetzt nicht dorthin zurück.
Kann man Libanon überhaupt noch verlassen, falls man über das Geld dafür verfügt?
Der Flughafen ist noch unbeschädigt und geöffnet. Er wird allerdings nur noch von der libanesischen Fluggesellschaft Middle East Airline angeflogen. Tagsüber sind die Flüge völlig ausgebucht. Tausende Menschen haben auch versucht, nach Syrien zu fliehen. Für viele Menschen in Libanon ist das jedoch keine Option: Mehr als eine Million Syrerinnen und Syrer sind seit 2011 vor dem Assad-Regime nach Libanon geflohen, sie können jetzt nicht dorthin zurück. Viele der syrischen Flüchtlinge wiederum lebten bislang in Zeltlagern in der Bekaa-Ebene – in jener Region Libanons also, die jetzt am stärksten von den Bombardements der Israelis betroffen ist.
Das Gespräch führte Ivana Pribakovic.