«Das Stadtzentrum von Sour, etwa 20 Kilometer von der libanesisch-israelischen Grenzlinie entfernt, ist still. Die Geschäfte, Apotheken und Schulen sind geschlossen», erzählt Ali Sharafeddie, ein Anwohner von Sour, in einer Sprachnachricht. Nur ein paar Lebensmittelgeschäfte seien offen. Die Menschen in der Stadt harrten zu Hause aus.
Es ist die Ruhe nach dem Sturm. Am Montag flog die israelische Luftwaffe wohl die intensivsten Angriffe auf vermeintliche Hisbollah-Stellungen seit dem letzten Krieg 2006.
Die Stadt Sour (auch Tyros genannt) selbst sei grösstenteils verschont geblieben, sagt Ali Sharafeddie, doch sie hätten die Einschläge in den Dörfern gehört und die Rauchwolken gesehen.
Aus diesen Dörfern in den Hügeln, wo auch die Hisbollah ihre Stellungen hat, seien die Menschen jedoch geflohen. «Etwa 80 Prozent der Menschen haben die Dörfer verlassen», vermutet der 76-Jährige. Wer es sich leisten konnte, floh in grössere Städte im Norden, andere seien in leeren Schulgebäuden von Sour untergekommen.
Die Menschen in Libanon hätten über die Jahre gelernt mit solchen Situationen umzugehen, meint Ali Sharafeddie. Er selbst blieb fürs Erste im Süden in seiner Wohnung, aber Familien mit Kindern seien in den Norden geflohen.
Sour gleiche einer Geisterstadt. «Normalerweise ist die Uferpromenade bis weit in die Nacht hinein belebt. Doch seit den Pagerattacken von letzter Woche ist alles leer», sagt der Anwohner.
Weiter im Norden in der Hauptstadt Beirut zeigt sich ein anderes Bild. Der enorme und rasche Zustrom von Binnenvertriebenen hätte auch sie überfordert, sagt Wael Darwish, Caritas-Länderdirektor in Libanon. Er habe mit einer langsamen Eskalation des Konflikts gerechnet, ähnlich wie 2006, aber nicht mit dem, was er in den letzten Tagen erlebt habe.
Das Gesundheitssystem ist überlastet
Über 30'000 Menschen wurden seit Montag in Notunterkünften aufgenommen, zusätzlich zu den über 100'000 Menschen, die seit Oktober 2023 auf der Flucht sind. Doch «Notunterkünfte» sei ein grosses Wort, denn diese seien eigentlich noch gar nicht bereit, so Darwish. «Im Moment sind es vor allem leerstehende Schulen, die erst mit Matratzen und Decken ausgerüstet werden müssen. Zudem müssen warme Mahlzeiten oder medizinische Versorgung erst noch organisiert werden.»
Das libanesische Gesundheitssystem, ohnehin schon von einer über fünf Jahre dauernden Wirtschaftskrise gebeutelt, sei auf einen solchen Ansturm nicht vorbereitet, erzählt Wael Darwish. Die Spitäler, noch voll von Verwundeten der Pagerattacken vergangener Woche, mussten Patienten frühzeitig entlassen, um die über 1600 neuen Verletzten aufnehmen zu können.
Menschen seien aus Regionen geflohen, die bis zum letzten Krieg 2006 als sicher galten. Doch nicht nur das habe sich geändert. Der libanesische Staat zerfiel in der Zwischenzeit, und der internationale Kontext sei ein anderer. «2006 sind Hunderttausende Menschen aus Libanon nach Syrien geflohen. Das ist aufgrund der aktuellen politischen Lage nicht mehr möglich», so der Caritas-Länderdirektor in Libanon.
Somit stehen die Libanesinnen und Libanesen erneut vor einer grossen Herausforderung: Nach einer Wirtschaftskrise, einer politischen Paralyse, einer Hafenexplosion und einer Flüchtlingskrise folgt nun auch noch ein Krieg ohne Ausweg.