Vor zwei Monaten hat der Krieg in der Ukraine begonnen. ETH-Militärexperte Mauro Mantovani, aktuell in einem Sabbatical, sieht die Gefahr eines Einsatzes von Massenvernichtungswaffen nach dem 9. Mai – an diesem Tag feiert Russland den Sieg über Nazideutschland.
SRF News: Die Ukraine meldet, Russland habe im Osten mehrere Ortschaften erobert. Was weiss man über diesen Vormarsch?
Mauro Mantovani: Seit ihrem Abzug aus dem Raum Kiew hat sich die russische Armee auf die Region Donbass fokussiert. Dort hat sie in den letzten Tagen einzelne Geländegewinne erzielt, besonders bei ihrem Vormarsch auf die Grossstadt Kramatorsk, das Zentrum der Oblast Donezk. In anderen Frontabschnitten hingegen sind der ukrainischen Seite Gegenstösse gelungen. Auf einer praktischehn Ebene stellt man fest, dass die russische Armee nun teilweise besser koordiniert vorgeht als vor einem Monat im Norden, dass Verbände sich gegenseitig unterstützen.
Die Russen müssen ihre Nachschubachsen sichern und dafür Truppen abstellen. Das führt zu einem zähen Abnutzungskrieg.
Wie ist das zu erklären?
Das sind die Lehren, die man aus dem Debakel um die Belagerung von Kiew gezogen hat. Man rückt jetzt zum Beispiel nicht auf einer einzigen Achse vor, sondern auf parallelen Achsen. Und dies langsam, aber stetig, und sucht offenbar nach Schwachstellen für einen Durchbruch. Die ukrainischen Frontverbände hingegen sind tief gestaffelt. Und gleichzeitig müssen die Russen ihre Nachschubachsen sichern und dafür Truppen abstellen. Das führt zu einem zähen Abnutzungskrieg.
Ziel russischer Angriffe ist es, westliche Waffenlieferungen an die Ukraine zu verlangsamen, zu stoppen. Kann das gelingen?
Ich bin skeptisch. Tatsächlich gab es verstärkte russische Angriffe auf Verkehrsknotenpunkte und Munitionsdepots. Allerdings waren das statische, nicht mobile Ziele. Zudem geht den Russen offenbar die Präzisionsmunition aus. Der Strom an westlichen Waffen in die Ukraine wird meiner Einschätzung nach dadurch nur wenig geschmälert.
Was bedeutet es, wenn die Präzisionsmunition zur Neige geht?
Dann wird unterschiedsloser bombardiert werden – mit den bekannten zivilen Kollateralschäden.
Wo sehen Sie die grössten Gefahren einer Eskalation?
Was mir Sorgen bereitet, ist die öffentliche Meinung in Russland, die anscheinend fast geschlossen hinter dem Kreml steht. In so einem Narrativ sind die Ukrainer ja faschistische Instrumente des Westens, um Russland zu zerstören, und müssten deshalb selber vernichtet werden. Dank dieses Rückhaltes in der Bevölkerung hat Präsident Wladimir Putin freie Hand, um den Krieg weiter zu eskalieren. Zum Beispiel mit Chemiewaffen in Mariupol oder auch, indem er den Kriegszustand ausruft, was ihm dann natürlich mehr Handlungsfreiheit gäbe.
Was würde dies konkret bedeuten?
Es wäre eine Eskalationsstufe auf der Ebene von Massenvernichtungswaffen, beispielsweise nun auch noch Verstösse gegen die Chemiewaffenkonvention. Nuklearwaffen sind ohnehin verboten. Und ein Kriegszustand würde bedeuten, dass nun eine Generalmobilmachung erfolgen könnte, dass auch das Einsatzrecht verschärft werden könnte, dass es noch mehr Repression im Innern gäbe.
Ich erwarte, dass Putin an diesem Jahrestag des Sieges über Nazideutschland den totalen Krieg gegen die Ukraine ausruft.
Was heisst das für die kommenden Wochen?
Es heisst nichts Gutes. Putin muss am 9. Mai Erfolge vorweisen. Ein minimaler Erfolg wäre die Landbrücke vom Donbass zur Krim, wofür nur noch die vollständige Einnahme von Mariupol fehlt. Ich erwarte, dass Putin an diesem Jahrestag des Sieges über Nazideutschland den totalen Krieg gegen die Ukraine ausruft und dass der Rote Platz beben wird.
Das Gespräch führte Claudia Weber.