Chris Inglis bezeichnet den russischen Krieg gegen die Ukraine als Wendepunkt: Erstmals würden Cybermittel in grossem Umfang zur Unterstützung eines barbarischen konventionellen Krieges eingesetzt: «Am sichtbarsten ist das bei der Desinformation. Sie spielt in russischen Drehbüchern seit jeher eine Schlüsselrolle.»
Man stelle ständig Cyberangriffe fest, oft solche, die der Ukraine gälten, aber unweigerlich Auswirkungen auf ganz Europa und darüber hinaus hätten, so Inglis. Es sei typisch, dass eine Firma oder ein Land zu Opfern würden, obschon sie gar nicht Ziel des Angriffs seien.
Desinformation spielt in russischen Drehbüchern seit jeher eine Schlüsselrolle.
Einen nationalen Direktor für Cybersicherheit gibt es in den USA erst seit kurzem. Präsident Joe Biden schuf den Spitzenposten, weil er erkannte, dass – anders als bei den konventionellen und den nuklearen Streitkräften – die Supermacht USA punkto Cyberabwehr nicht besonders gut aufgestellt ist.
Militärische und zivile Ziele schwer unterscheidbar
Inglis, der erste Amtsinhaber und zugleich Bidens Chefberater in Cybersicherheitsfragen, ist ein ehemaliger Luftwaffengeneral. Später war er Vizechef der Nationalen Sicherheitsagentur NSA, der Dachorganisation aller US-Geheimdienste.
Ein grosses Problem aus seiner Sicht: Bei Cyberangriffen fällt es besonders schwer, zwischen militärischen und zivilen Zielen zu unterscheiden. Obschon das Kriegsvölkerrecht dies zwingend vorschreibt. Zugleich spitzten sich Cyberkonflikte oft noch schneller zu als konventionelle. Denn sie brauchen weniger Vorbereitung und sind viel billiger.
Inglis: Westen ungenügend vorbereitet
Inglis geht fest davon aus, dass der Ukraine-Krieg im Cyberbereich weiter eskaliert: «Vorläufig sind die russischen Streitkräfte im Terrain überfordert. Das gilt wohl auch bei den Cyberaktivitäten und in den Kommandostrukturen. Doch das dürfte sich im Lauf der Zeit ändern.»
Der Westen müsse sich deshalb etliche unangenehme Fragen stellen: Besitzen wir im Digitalbereich robuste Vorkehren gegen Angriffe? Sind wir uns der Bedrohungen bewusst? Erkennen wir sie rasch genug? Könnten wir unverzüglich reagieren?. Seine ernüchternde Antwort: Nein.
Vorläufig sind die russischen Streitkräfte im Terrain überfordert. Das gilt wohl auch bei den Cyberaktivitäten und in den Kommandostrukturen. Doch das dürfte sich im Lauf der Zeit ändern.
Zu lange habe man zu wenig getan, stellt Inglis fest. Zwar besässen die USA und ihre Verbündeten das Knowhow, die nötige Technologie, um sich zu schützen und zu wehren. Das Problem liege in der Doktrin, in der konkreten Vorbereitung.
So mangle es noch immer weithin am Bewusstsein für das Ausmass der Bedrohung. Und an den Fähigkeiten, Cybergefahren gemeinsam zu bekämpfen. Auch fehlten Spezialistinnen und Spezialisten. Beunruhigend sei zudem, dass beim Cyberkrieg bisher der Vorteil klar beim Angreifer liege – anders als bei klassischen militärischen Auseinandersetzungen.
Das gelte nicht nur für Russland im Ukraine-Krieg, so Inglis. Sondern auch für China und im Grunde für jeden Akteur, der auf offensive Cyberoperationen setze. Überall sei die Cyberverteidigung möglichen Angriffen nicht gewachsen.
Die entscheidende Frage laute daher: Wer setzt am skrupellosesten auf offensive Cyberoperationen? Das müsse anders werden, erklärt Inglis. Die Cyberverteidigungskräfte müssten die Oberhand erringen. Kein Land schaffe das allein. Auch ein kleiner Staat wie die cybertechnologisch hochentwickelte Schweiz könne und müsse einen wesentlichen Beitrag leisten.
Die Cyberverteidigungskräfte müssen die Oberhand erringen. Kein Land schafft das allein.
Der nationale Direktor für Cybersicherheit im Weissen Haus bezeichnet Cybersicherheit als «Mannschaftssportart». Dass Nationen eng zusammenarbeiten, sei nicht nur wünschbar, sondern zwingend. Dafür kämpft er.