Lesia steht auf der unasphaltierten Dorfstrasse von Pisky, einem kleinen Örtchen, etwa 160 Kilometer nordöstlich von Odessa. «Hier ist der Dorfladen, den die Russen geplündert haben. Dort drüben haben sie Schützengräben ausgehoben», erzählt sie. «In der Schule wohnten die Soldaten. Sie haben junge Frauen aus dem Dorf gezwungen, für sie zu kochen.»
Eine bloss vermeintlich sichere Gegend
Die Geschäftsfrau betreibt in der Stadt Mikolajiw eine Metzgerei. Sie war bei Kriegsausbruch mit ihrem Mann und der kleinen Tochter hierhergekommen, in das Dorf ihrer Kindheit, wo ihre Familie jetzt noch lebt. Rundherum endlose Weiten, im Dorf kleine Häuser mit riesigen Gärten. Es ist eine idyllische, vermeintlich sichere Gegend.
Die Russen suchten nach Leuten, die in der ukrainischen Armee gedient hatten.
Doch die Russen marschierten schon wenige Tage nach Kriegsbeginn in Pisky ein und begannen gleich, die Häuser zu durchsuchen. «Am ersten Tag haben sie meinen Bruder, meinen Mann und andere Männer zusammengetrieben. Sie suchten nach Leuten, die in der ukrainischen Armee gedient hatten», sagt Lesia.
Zudem habe es «Politik-Lektionen» gegeben: «Die Russen erzählten, unter russischer Herrschaft werde alles wunderbar.»
Immerhin hatten Lesias Mann und ihr Bruder Glück: Die Soldaten liessen sie wieder laufen. Von zwei jungen Männern aus dem Dorf jedoch fehlt bis heute jede Spur.
Inzwischen ist der Alptraum der Besatzung vorbei. Lesia kann mit ihrer Familie wieder lachen. Jetzt ist man auf dem Hof der Schwiegereltern zusammengekommen.
Auf einem Baum zwitschert ein Vogelschwarm, auf einem Tisch steht im Schatten ein üppiges Mittagessen: aufgeschnittene Gurken, Tomaten aus dem Garten, dazu Teigtaschen, gebratenes Fleisch und eine Flasche selbstgebrannten Schnaps.
Die Familie erinnert sich an die Tage, als der Krieg in ihr Dorf kam. Wie die ukrainische Armee die Russen ausserhalb des Dorfes erst heftig bombardierte und dann nach wenigen Wochen schon Pisky befreite. Inzwischen ist die Front rund 90 Kilometer entfernt.
Wir sind einfach froh, dass wir noch leben.
«Alles ist relativ. Wir hatten Glück. Grosse Zerstörungen gibt es bei uns nicht», sagt Lesias Schwiegervater Viktor. Er war zu Sowjetzeiten Vorsitzender der Kolchose in Pisky und kennt das Dorf gut.
Über die Stimmung im Dorf sagt Viktor: «Die Leute haben viel zu tun. Jeder muss schauen, wie er über die Runden kommt.» Und Lesia fügt an: «Wir sind einfach froh, dass wir noch leben.»
Doch das Leben ist nicht mehr, wie es einmal war. Viktor deutet an, dass es im Dorf durchaus auch Leute gegeben hat, die die Russen willkommen geheissen haben.
Kollaborateure leben immer noch im Dorf
Eine Minderheit arbeitete mit den Russen zusammen, erstellte etwa Listen mit Nachbarn, die eine proukrainische Haltung haben. Diese Kollaborateure sind immer noch da.
In die Details will Viktor allerdings nicht gehen. Zu fragil ist die Dorfgemeinschaft selbst über ein Jahr nach der Befreiung.
Die Russen waren hochnäsig. Als sie abzogen, sagten sie: ‹Wir kommen zurück!›
Und der Krieg geht weiter. Mehrere Dutzend Dorfbewohner sind mobilisiert worden und dienen in der Armee. Ein Mitarbeiter von Lesias Metzgerei ist kürzlich an der Front gefallen.
Und niemand wisse, wie sich der Krieg weiterentwickle, sagt Schwiegervater Viktor: «Die Russen waren hochnäsig. Als sie abzogen, sagten sie: Wir kommen zurück.»
Er selbst sei im Notfall bereit zu kämpfen, denn: «Sklaven kommen nicht in den Himmel. Und ein Sklave möchte ich nicht sein.»