Der von Russland angezettelte Krieg in der Ukraine erfordert auch vom Papst eine Reaktion. Er betet für den Frieden und appelliert zur Beendigung des blutigen Krieges. Inzwischen steht auch eine Reise des Papstes nach Kiew im Raum. Doch wird er auch fahren? Überlegungen dazu vom Kirchenhistoriker Jörg Ernesti.
SRF News: Wie wahrscheinlich ist es, dass der Papst in nächster Zeit nach Kiew reisen wird?
Jörg Ernesti: Auch wenn sich viele Menschen wohl eine solche Reise wünschen – wird er zum jetzigen Zeitpunkt wohl nicht dorthin fahren. Denn falls er nach Kiew fährt, wird die Welt dies als eindeutige Parteinahme zugunsten der Ukraine deuten. Damit verlöre er jeglichen Einfluss auf die russische Orthodoxie und indirekt auch auf Wladimir Putin. Sollte die Lage aber weiter eskalieren, mit noch mehr Massakern, dann wird er wohl nicht umhinkommen, doch nach Kiew zu fahren.
Wie risikofreudig waren die Päpste in der Vergangenheit in ähnlichen Fällen?
In den letzten 150 Jahren gab es einige risikofreudige Päpste. So etwa Benedikt XV., der im Ersten Weltkrieg einen sehr konkreten Friedensplan vorlegte, der aber von allen Seiten abgelehnt wurde – wohl weil er zu gewagt war.
Papst Johannes Paul II. warf sein ganzes Gewicht in die Waagschale, um den dritten Irakkrieg zu verhindern.
Oder Johannes Paul II., der noch kurz vor seinem Tod 2002/2003 sein ganzes Gewicht in die Waagschale warf, um den dritten Irakkrieg zu verhindern – wie wir wissen, ohne Erfolg. Dabei lautet ein Grundgesetz der Diplomatie: Manchmal ist kluge Zurückhaltung besser, um nicht humanitäre Missionen oder sogar eine Friedensvermittlung zu gefährden.
Was könnte eine Reise nach Kiew im aktuellen Fall bringen?
Der Papst wartet derzeit noch ab und behält sich dieses letzte Mittel, ein Zeichen zu setzen, noch vor. Sollten sich die Russen in ihrem Furor und ihrem Kriegswahn aber nicht bremsen lassen, dann kommt der Papst um eine Reise nach Kiew nicht herum. Sonst würde er seine Glaubwürdigkeit verspielen.
Sollten sich die Russen in ihrem Kriegswahn nicht bremsen lassen, kommt der Papst um eine Reise nach Kiew nicht herum.
Hier hat man wohl unter anderem aus dem Verhalten Pius XII. im Zweiten Weltkrieg gelernt: Obschon dieser früh und detailliert über den Holocaust und die Gräuel der Deutschen in den besetzten Gebieten wusste, hat er nicht eindeutig Position bezogen. Im Gegensatz dazu hat sich Papst Johannes Paul II. politisch stark exponiert und massgeblich zum Zusammenbruch des Ostblocks Ende der 1980er-Jahre beigetragen.
Welches Papst-Modell ist erfolgreicher?
Johannes Paul II. war nach 100 Jahren der erste Papst, der nicht diplomatisch ausgebildet war – seine Vorgänger waren alle stark durch die Diplomatie geprägt gewesen. Johannes Paul II. wusste aus eigener Erfahrung, dass Zurückhaltung in autoritären Regimen sehr schnell an Grenzen stösst. Er gilt eher als Vertreter des prophetischen Protestes gegen Krieg und Unrecht – im Gegensatz zum Diplomatenpapst Pius XII.
Johannes Paul II. war nach 100 Jahren der erste Papst, der nicht diplomatisch ausgebildet war.
Wo zwischen diesen beiden Extremen ist Papst Franziskus einzuordnen?
Die Medien sehen in Franziskus eher den prophetischen Mahner im Sinne Johannes Pauls II. – etwa wenn er in drastischen Worten an das Schicksal der Flüchtlinge im Mittelmeer erinnert oder den Klimawandel mit scharfen Worten thematisiert. Doch die Ukraine-Krise zeigt, dass er auch die diplomatische Zurückhaltung kennt. Mit Staatssekretär Pietro Parolin hat er bekanntlich einen Spitzendiplomaten an seiner Seite, der eine Art Premier- und Aussenminister des Heiligen Stuhls verkörpert.
Das Gespräch führte Peter Voegeli.