In den belagerten ukrainischen Städten wird die Lage für die Menschen immer dramatischer. Derweil rückt der Krieg näher an die Grenze zu Polen. Laut ukrainischen Angaben hat die russische Armee einen Militärstützpunkt nahe Lwiw (Lemberg) angegriffen. Dabei gab es mindestens 35 Tote und mehr als 130 Verletzte. Auslandredaktor David Nauer ordnet ein.
SRF News: Was ist die Absicht hinter diesem Angriff auf den Militärstützpunkt nahe Lwiw?
David Nauer: Bis vor wenigen Wochen haben auf diesem Stützpunkt amerikanische Soldaten die ukrainische Armee ausgebildet. Mutmasslich gehen bis heute westliche Waffenlieferungen an die Ukraine genau über diese Militärbasis. Die russische Führung versucht offenbar, die Ukraine von westlicher Unterstützung abzuschneiden und sie will dem Westen ein Signal senden – dass nämlich Moskau westliche Waffenlieferungen an die Ukraine als Einmischung in den Krieg sieht und bekämpfen wird.
Lwiw ist nahe an der polnischen Grenze. Kommt die russische Armee der Nato also immer näher?
Man kann sagen, dass der Krieg der Nato immer näher kommt – nicht nur geografisch, sondern es handelt sich wie gesagt auch um einen Schlag gegen westlich gesponserte Nachschublieferungen für die Ukraine. Das erhöht die Spannungen zwischen Russland und der Nato zusätzlich.
Es scheint, dass der Kreml zurzeit an einer Eskalation des Krieges über die Ukraine hinaus nicht interessiert ist.
Andererseits wollen die Russen im Moment eine direkte Konfrontation mit der Nato offenbar vermeiden. Deswegen haben sie diese Basis auf ukrainischem Boden angegriffen, und nicht etwa einen Waffenkonvoi in Polen. Es scheint, dass der Kreml an einer Eskalation des Krieges über die Ukraine hinaus nicht interessiert ist und das verhindern will.
Schauen wir auf die von Russland besetzten Gebiete. In der südukrainischen Stadt Melitopol hat Russland heute eine eigene Statthalterin eingesetzt – gestern war der Bürgermeister der Stadt entführt worden. Ist das Taktik?
An diesem Beispiel könnte sich der Plan der russischen Führung für die Ukraine zeigen. Es scheint der gleiche Plan zu sein, den die Russen schon 2014 in Donezk in der Ostukraine angewendet haben. Damals wurden Meinungsführer – also Politiker, Aktivistinnen, Journalisten – verschleppt und zum Teil umgebracht. Dann wurde eine pro-russische Marionettenregierung eingesetzt und es gab eine Volksabstimmung unter Waffengewalt.
Schliesslich hat die russische Propaganda behauptet, die Menschen in diesen Gebieten seien für die Unabhängigkeit und wollten von Russland befreit werden. Es sieht so aus, als ob die Russen es heute wieder mit dieser Taktik versuchen wollten – einer Taktik, dank der Russland mit Terror und Repression regiert und Widerstand unterdrückt.
In der Region Cherson gab es heute grosse Demonstrationen gegen die russischen Besatzer. Es gibt also noch Widerstand von der Zivilbevölkerung?
Ja, den gibt es. Das ist recht erstaunlich, zumal gerade Cherson und die Städte rundherum eigentlich traditionell als pro-russisch gelten. Die Demonstrationen sind ein klares Zeichen dafür, dass die Russen in diesen Gebieten von der Bevölkerung nicht willkommen geheissen werden. Mehr noch: Sie werden bekämpft, die Leute gehen auf russische Soldaten zu, beschimpfen sie und lassen sich nicht einschüchtern.
So sehr wir uns alle Frieden wünschen – richtig erleichtert bin ich erst, wenn sich die Konfliktparteien konkret auf etwas geeinigt haben.
Ein russischer Delegierter, der seit Wochen mit den Ukrainern verhandelt, sagte am Sonntag im russischen Fernsehen, dass es in den Verhandlungen deutliche Fortschritte gegeben habe. Wie ordnen Sie diese Aussage ein?
Das erstaunliche ist, dass die Ukrainer dasselbe sagen. Ein ukrainischer Unterhändler hat ebenfalls gesagt, dass die Verhandlungen vorankämen. Auch der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hat sich ähnlich geäussert. All diese Aussagen sind in einem Meer von schlechten Nachrichten die erste gute Nachricht seit langem. Es ist ein klitzekleiner Hoffnungsschimmer. Dennoch denke ich, dass man diese Äusserungen nicht überbewerten sollte. Wir wissen nicht, ob es wirklich Fortschritte gibt. So sehr wir uns alle Frieden wünschen – richtig erleichtert bin ich erst, wenn sich die Konfliktparteien konkret auf etwas geeinigt haben und dies auch umsetzen.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.