Die ukrainische Armee leistet im Krieg gegen die übermächtigen russischen Invasoren beeindruckenden Widerstand. Allerdings: Aus dem Nichts kommen die militärischen Kapazitäten der Ukraine nicht. Das weiss der pensionierte Generalmajor der US-Armee Michael Repass. Er hat von 2016 bis im Januar 2022 Spezialeinheiten in der Ukraine ausgebildet. Jene Kräfte, die jetzt im Zermürbungskrieg gegen Russland kämpfen.
«Die Frage ist, ob die ukrainische Verteidigung die russischen Angreifer ermüden und zu einem Rückzug zwingen kann», sagt der ehemalige Offizier der «US Special Operation Forces» im Gespräch. Das sei möglich, denn inzwischen sei die ukrainische Truppenstärke – Berufsheer und Milizen – dank der unglaublichen Mobilisierung in den letzten Wochen auf über 200'000 Personen angewachsen. Und der Westen liefere die Waffen, welche die Soldatinnen und Soldaten wirksam einsetzen würden.
Die effiziente Defensive der Ukraine kommt nicht von ungefähr
Seit der Krim-Annexion 2014 hätten Nato-Länder die damals schwächelnde ukrainische Armee intensiv ausgebildet, sagt Repass. Die Verbündeten hätten abwechslungsweise ohne Unterbruch die Ukrainer auf allen Ebenen trainiert – von den taktischen Kampfeinheiten über den Generalstab bis ins Verteidigungsministerium.
Wir alle hatten dieselben Verhaltensmuster, dieselben Prozesse, dieselbe taktische Sprache.
Wie umfassend sich das ukrainische Militär verändert hat, stellte Repass im September fest, als er an einem Grossmanöver in der Ukraine teilnahm. Ob Polen, Amerikaner oder Ukrainer: «Wir alle hatten dieselben Verhaltensmuster, teilten dieselben Prozesse, brauchten dieselbe taktische Sprache.» So sei die ukrainische Armee dazu fähig, eine effiziente Defensive entlang der Einfallstrassen aufzubauen – mit Anti-Panzer-Waffen unterschiedlicher Reichweite und Infanterie. So habe sie die russischen Angreifer lange von den Hauptverteidigungslinien rund um die Städte und der wichtigen Infrastruktur fernhalten können. Dieser Einsatz sei bisher schlicht grossartig gewesen.
Putins Taktik
Doch nun werde sich herausstellen, ob letztlich die Quantität siege – ob die Russen mit ihrer Feuerkraft und zahlenmässigen Überlegenheit die Ukrainer überwältigen könnten. Repass geht davon aus, dass Russlands Präsident Wladimir Putin die ukrainischen Städte in Schutt und Asche legen wird, wie er das schon in Tschetschenien und in Syrien getan hat. In der südukrainischen Hafenstadt Mariupol habe Putin schon damit begonnen. «Dort hat er die öffentliche Infrastruktur zerstört: Wasser, Kanalisation, Transport, Kommunikation und die Spitäler.»
Putin wird alles zerstören, und es ist ihm egal, wen er tötet.
Sobald Putin die Schlinge um Mariupol zugezogen habe, werde er die Zivilisten dazu auffordern zu evakuieren. Wer übrig bleibe, werde als Feind betrachtet. Dieses Muster werde Putin mit anderen Städten wiederholen. «Kiew steht als Nächstes an.» Michael Repass hofft, dass dann die russischen Kapazitäten erschöpft sind und wenigstens Odessa verschont bleibt.
«Putin wird alles zerstören, und es ist ihm egal, wen er tötet.» Das menschliche Leid werde in den kommenden Wochen einfach schrecklich sein. Dennoch lohne sich der tapfere Kampf der Ukrainerinnen und Ukrainer: Sie würden Putin seinen brutalen Angriff bitter bezahlen lassen.