Die ukrainischen Truppen konnten in der Region um Kiew Gebiete zurückerobern. Russland konzentriert sich nun auf den Südosten der Ukraine. Die russische Armee brauche dort ihre Kräfte, um ihre minimalen Kriegsziele zu erreichen, sagt Georg Häsler, Militärexperte der «NZZ», im Interview.
SRF News: Die russischen Truppen haben sich aus der Umgebung von Kiew zurückgezogen. Welche Strategie verfolgt Russland damit?
Georg Häsler: Die russische Armee hat vor Kiew wohl eine militärische Niederlage erlitten. Es gelang ihr nicht, den Belagerungsring um die ukrainische Hauptstadt herum eng genug zu ziehen. Der Widerstand der Verteidiger war zu stark. Jetzt hat sich der russische Generalstab dazu entschlossen, die stark dezimierten Verbände zurückzuziehen und zu reorganisieren.
Welche Ziele verfolgen die Russen mittelfristig mit der Hauptstadt? Haben sie die Eroberung zurückgestellt oder ist das kein Ziel mehr?
Die russische Armee braucht Kräfte im Südosten der Ukraine, um die minimalen Kriegsziele zu erreichen. Sie bildet hier also ein klares Schwergewicht. Eine nächste Angriffswelle auf Kiew ist möglich, hängt aber vom Zustand der ukrainischen Armee ab. Falls diese im Donbass vernichtend geschlagen wird, könnte die Einnahme Kiews wieder ein Thema werden. Dies hängt aber auch von politischen Faktoren ab.
Ukrainische Quellen berichten, dass die Russen vor ihrem Abzug Gebiete vermint hätten. Stimmt das?
Absolut lässt sich in diesem Krieg nichts sagen. Es fehlen unabhängige Beobachter der internationalen Gemeinschaft. Minen werden aber trotz aller Ächtung weiterhin verwendet, um den Gegner zu kanalisieren oder auf Abstand zu halten.
Wieso richten sich die russischen Truppen nun auf den Osten und Süden der Ukraine aus?
Der Generalstab in Moskau hat seine Offensive mit zu wenig Kraft geplant. Statt mit einer Übermacht rückte die russische Armee mit einem Kräfteverhältnis 1:1 in die Ukraine ein. Dies soll wohl mit einem klaren Schwergewicht korrigiert werden.
Wie will Russland seine Ziele im Südosten erreichen?
Der «Schutz der Volksrepubliken», also der Separatistengebiete, war gemäss Narrativ des Kremls das auslösende Moment für die sogenannte «Spezialoperation» in der Ukraine. Zudem dürfte Russland die Landbrücke zur Krim sichern wollen. Besonders gefährlich ist aber die Möglichkeit, dass Russland die ukrainischen Truppen einkesseln und vernichtend schlagen könnte. Damit wäre ein weiteres Kriegsziel auf brutale Art und Weise erreicht.
Die Hafenstadt Odessa im Süden der Ukraine wird als strategisch wichtig angesehen. Russische Angriffe haben sich offenbar in den letzten Tagen verstärkt. Wieso ist Odessa für die Russen wichtig?
Odessa hat hohen symbolischen Wert. Zudem könnte Russland versuchen, die Ukraine ganz vom Schwarzen Meer abzuschneiden. Es ist aber fraglich, ob die russische Armee gegenwärtig über genügend Kräfte verfügt, um zum jetzigen Zeitpunkt am Boden einen Vorstoss Richtung Odessa erfolgreich auszuführen. Noch vermochte sie einen entscheidenden Flussübergang nicht in Besitz nehmen. Allenfalls müssten die Landungsboote eingesetzt werden, die im Schwarzen Meer vor Anker liegen.
Wagen Sie eine Prognose? Kann die ukrainische Armee auch im Süden des Landes den Angriffen etwas entgegensetzen?
Der Kampf der ukrainischen Armee wird schwieriger, vor allem, wenn Russland nun mit einer Übermacht angreift. Zudem fehlen den Truppen Kiews starke Offensivmittel, um mit Gegenangriffen die russische Angreifer zu vernichten.
Das Interview führte Judith Schraner schriftlich.