Im Kiewer Vorort Butscha sollen russische Soldaten Hunderte Zivilisten ermordet haben – die verstörenden Bilder und Videos gehen um die Welt. In Russland jedoch glauben die Menschen offenbar dem Narrativ, die Bilder seien von den Ukrainern gestellt, um die russische Armee in Verruf zu bringen. Der in Moskau lebende Autor Jens Siegert kennt die Hintergründe.
SRF News: Was bekommen die russischen Bürger überhaupt mit vom Krieg in der Ukraine?
Jens Siegert: Wenn man in Russland nur die staatlich zugelassenen Medien verfolgt, bekommt man einzig mit, dass die Ukrainer einmal mehr gelogen hätten. Die Toten in den Videos von Butscha wären demnach von Ukrainern getötet und dorthin gelegt worden, um Russland zu diskreditieren.
Was löst dieses Narrativ bei Russen aus?
Die meisten Russen sind auf Kreml-Linie. Manche von ihnen sagen, weil man im Krieg sei, müsse man zusammenstehen und die oberste Führung unterstützen. Andere sagen, sie glaubten alles, was vom Kreml kommt.
Viele Russen folgen Putins Argumentation, man habe mit dem Angriff der Nato zuvorkommen müssen, die ihrerseits einen Angriff auf Russland geplant habe.
Alles, was dagegen vom Westen und aus der Ukraine komme, sei Propaganda. Darunter sind viele, die den Krieg keineswegs gut finden. Doch sie folgen der Argumentation Putins, man habe keine andere Wahl gehabt, als in die Ukraine einzumarschieren, weil sonst ein Angriff der Nato und der USA auf Russland von der Ukraine gedroht hätte.
Die Videos mit den Leichen aus Butscha werden auch in den russischen Nachrichten gezeigt, mit dem Hinweis, es handle sich um ukrainische Fälschungen. Glauben das die Russen?
In der Tat glauben wohl sehr viele, dass die dort liegenden Toten von ukrainischen Faschisten umgebracht worden seien, wie das die russischen Nachrichtensprecher behaupten.
Trauen die Russen ihrer eigenen Armee solche Mordtaten denn nicht zu?
Nein – diese Russen auf jeden Fall nicht. Es wäre ja auch viel zu schrecklich, den eigenen Leuten solche Gräueltaten zuzutrauen. Das würde das eigene Weltbild, dass die Russen die Guten seien, völlig durcheinander bringen. Hierbei spielt sicher die seit Jahren wiederholte russische Propaganda, die Faschisten hätten die Ukraine und die dortige Regierung in der Hand, eine Rolle.
Das Narrativ, die Faschisten seien in der Ukraine an der Macht, wird seit der Krim-Annexion 2014 in die Köpfe der Russen hineingehämmert.
Dieses Narrativ wird seit der Krim-Annexion 2014 in die Köpfe der Russen hineingehämmert, sodass viele das inzwischen tatsächlich glauben. Viele Russen glauben auch, dass man in der Ukraine nicht Russisch sprechen darf oder russischsprachige Ukrainer diskriminiert und verfolgt werden. Bloss eine kleine Minderheit, jene Russen, die gegen den Krieg sind, wissen wohl, dass die Berichte der Ukraine stimmen.
Was müsste in Russland geschehen, damit die Menschen der Regierungspropaganda nicht mehr glauben würden?
Ich weiss nicht, was sich da verändern müsste. Die Propaganda ist in den Menschen sehr tief drin. Und je länger der Krieg dauert, und je schrecklicher er wird, desto mehr festigt sich in den Köpfen der Russen die Haltung, man gehöre zu den Guten, man verübe keine Kriegsverbrechen.
Die Russen wissen, dass es innerhalb der Armee viel Gewalt gibt – doch die beiden Wirklichkeiten werden in den Köpfen der Menschen nicht zusammengeführt.
Da spielt es auch keine Rolle, dass in Russland alle wissen, dass innerhalb der russischen Armee die Gewalt unter den Soldaten weit verbreitet ist. Die beiden Wirklichkeiten werden in den Köpfen der Russen nicht zusammengeführt. Im Übrigen hat die russische Armee als Ganzes vor allem dank des Sieges im Zweiten Weltkriegs immer noch einen guten Ruf im Volk. Dieser wird vom Kreml seit Jahren auch gefördert. In Russland werden drei Institutionen überwiegend positiv gesehen: der Präsident, die Kirche und die Armee.
Das Gespräch führte Marc Allemann.