Georgien will noch heute die Aufnahme in die EU beantragen. «Wir fordern die EU-Gremien auf, unseren Antrag einer Notfallprüfung zu unterziehen und uns den Status eines EU-Beitrittskandidaten zu gewähren», sagte der Chef der Regierungspartei Georgischer Traum, Irakli Kobachidse.
Dies sei eine politische Entscheidung der Partei «unter Berücksichtigung des allgemeinen politischen Kontexts und der neuen Realität». Der Antrag werde am Donnerstag im Namen der Regierung in Brüssel übergeben.
Kehrtwende in Tiflis
Damit legt Kobachidse eine Kehrtwende hin. Am Dienstag hatte er darauf beharrt, man wolle erst 2024 einen solchen Antrag stellen, weil «eine übereilte Initiative kontraproduktiv» sein könnte.
Angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hatte Kobachidse zudem der Regierung in Kiew die Unterstützung Georgiens versichert. An den von der EU, den USA und vielen anderen Staaten erlassenen Sanktionen will sich die Ex-Sowjetrepublik aber nicht beteiligen.
«Die Kehrtwende ist ein Zeichen dafür, dass in Georgien grosse Angst herrscht», sagt Hans Gutbrod, Professor für Politikwissenschaften an der Ilia Staatsuniversität in Tiflis. «Man will nun unbedingt in die EU hinein, sofern sich diese Möglichkeit noch bietet.»
Die Bevölkerung erhofft sich, aus der Welt, wie wir sie nun auf den TV-Bildschirmen sehen, auszubrechen: Repression, Angst, ein System, in dem ein paar wenige alle Macht haben.
In Georgien demonstrierten am Wochenende Zehntausende gegen den Krieg in der Ukraine – und auch für die westliche Ausrichtung des Landes. «Die Bevölkerung erhofft sich, aus der Welt, wie wir sie nun auf den TV-Bildschirmen sehen, auszubrechen: Repression, Angst, ein System, in dem ein paar wenige alle Macht haben – und der Rest der Bevölkerung keine wirkliche Zukunft hat.»
Der Druck der Strasse widerspiegelt für sich nun auch in der Regierungspolitik. Obwohl diese als eher russlandfreundlich gilt und die Führungstroika der Partei zuletzt auch kritische Töne in Richtung EU und des Westens generell anschlug. «Insofern ist der Schritt jetzt tatsächlich eine Überraschung», schätzt Gutbrod.
Geopolitische Gratwanderung
2008 stand das Land schon selbst im Krieg mit dem grossen Nachbarn. Sollte Georgien nun «Vollgas Richtung Westen» gehen, wäre das ein Risiko, sagt der Politologe: «Es sind gefährliche Zeiten für den ganzen Kaukasus bis hoch zum Baltikum.»
Eine – wenn auch erst symbolische – Hinwendung zur EU wäre also ein Wagnis für Georgien. «Unmittelbar mag es schwierig sein, Putins Waffengewalt zu widerstehen. Am Ende kommt es aber darauf an, wo die Herzen der Menschen schlagen», schliesst Gutbrod.