Wladimir Putin ist nicht dafür bekannt, die Wahrheit zu sagen. Erfahrungsgemäss tut er nicht selten hinter verschlossenen Türen genau das Gegenteil von dem, was er vorgibt zu tun. So drohte er kürzlich auch nicht zum ersten Mal mit Atomwaffen.
Ganz als leere Worthülsen lassen sich Putins Worte dennoch nicht zur Seite schieben. Der russische Präsident hat sich dermassen in eine militärische und politische Sackgasse gebracht, dass er buchstäblich mit den Atomwaffen im Rücken zur Wand steht.
Unvorstellbares wird Tatsache
Wenn die vergangenen Kriegsmonate etwas unter Beweis gestellt haben, dann die Tatsache, dass Putin nicht an einem Dialog und nicht an einer Deeskalation interessiert ist.
Vieles schien vor dem 24. Februar 2022 völlig unvorstellbar. Die Bombardierung der ukrainischen Hauptstadt durch die russische Armee – unvorstellbar. Bis zum 21. September schien die Mobilisierung von hunderttausenden Russen ebenso unvorstellbar.
Militärisch ist die verknöcherte und von Korruption durchsetzte russische Armee einer vom Westen trainierten und militärisch unterstützten ukrainischen Armee nicht gewachsen. Dies hat sich erst im April in den Vorstädten von Kiew und später im September in der Region von Charkiw gezeigt.
Verteidigung des «russischen» Territoriums
Rational betrachtet, hat sich die Grossoffensive bisher als katastrophaler Fehler mit verheerenden politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen für Russland entpuppt. Für Putin geht es aber im Kern weder um die Wirtschaft noch um das Wohlergehen der Russinnen und Russen, sondern um seinen Machterhalt. Wenn Putin das Gefühl hat, dass ihm der Einsatz von Atomwaffen seine Macht sichern werden, so scheint es heute nicht mehr undenkbar, dass er zu Atomwaffen greifen könnte.
Voraussichtlich wird Wladimir Putin am Freitag die von Russland besetzten Gebiete der Ukraine nach Durchführung der Scheinreferenden ganz offiziell zu russischem Staatsgebiet erklären. Es steht ausser Frage, dass es sich dabei um eine Erklärung fern von Recht und Realität handeln wird.
Ab diesem Zeitpunkt hätte Putin passend zu seiner verdrehten Rhetorik einen Vorwand, um Atomwaffen gegen die Ukraine einzusetzen, denn mit der widerrechtlichen Erklärung dieser Gebiete zu russischem Staatsgebiet hätte er laut russischer Gesetzgebung das Recht, zum Schutz der territorialen Integrität selbst zu Atomwaffen zu greifen.
Kein zweites Hiroshima, und doch eine Katastrophe
Der ukrainische Präsident stellt sich weiter auf den Standpunkt, dass sich das Land nicht von Russland unter Druck setzen lasse. Aus der Sicht von Selenski verständlich, denn die Ukrainerinnen und Ukrainer haben schlicht keine andere Wahl. Unter den Menschen im Land steigt die Angst. In Chats werden Tipps über Verhaltensregeln nach einem Einsatz von Atomwaffen ausgetauscht. Dabei scheinen viele gleich das schlimmste aller Szenarien zu befürchten.
Mit dem Allerschlimmsten ist aber weiterhin nicht zu rechnen. Ein zweites Hiroshima oder Nagasaki ist nicht zu befürchten. Es scheint wahrscheinlicher, dass Russland taktische Atomwaffen zur Demonstration zuerst über dem Schwarzen Meer testen und anschliessend in der Frontnähe einsetzen könnte. Die Folgen für die Menschen in der Nähe des Einsatzortes wären verheerend.
Bis jetzt gibt es keine eindeutigen Anzeichen dafür, dass auf diplomatischem Weg nach allen Kräften Lösungen gesucht werden. Ohne Zweifel ist dafür Wladimir Putin verantwortlich, doch dies ändert nichts an der Bedrohung, die von ihm ausgeht.