Im Grunde kam der russische Einmarsch in die Ukraine nicht überraschend. Allerdings waren auch viele Fachleute vom Ausmass der Militäraktion überrascht, Militärexperte Wolfgang Richter ebenfalls. Anfang Woche war er noch davon ausgegangen, dass es sich bei der russischen Offensive um eine begrenzte Aktion handle. Dem war aber nicht so. Richter erklärt, wie es zu dieser Fehleinschätzung kommen konnte. Und er sagt, wo Putin sich verrechnet habe.
SRF News: Wo haben Sie sich verschätzt?
Wolfgang Richter: Ich habe nicht damit gerechnet oder es zumindest für weniger wahrscheinlich gehalten, dass es eine gross angelegte Invasion gibt. Aber ich glaube immer noch, dass die Fehleinschätzung weniger im Westen als bei Putin selber liegt. Es geht nicht nur um Wirtschafts- und Finanzsanktionen. Es geht um eine internationale Isolierung Russlands.
Putin muss in Moskau begründen, warum so viele junge russische Soldaten in Särgen zurückkommen.
Aber noch wesentlicher sind die innenpolitischen Risiken für Putin. Seine Armee hat zwar den grossen Vorteil der Luftüberlegenheit. Gleichwohl: Wenn sich die Kämpfe weiter auf Städte, Dörfer und Wälder erstrecken, werden die Russen noch mehr Verluste zu beklagen haben. Das heisst, Putin muss in Moskau begründen, warum so viele junge russische Soldaten in Särgen zurückkommen. Das hat langfristig ein innenpolitisches Sprengpotenzial.
Sie sagen, innenpolitisch sei es schwierig, ist es auch militärstrategisch schwierig?
Es geht nicht um blitzartige Angriffsoperationen, sondern auch um die Besetzung des Landes und um langfristige Guerilla-Kriege. Putin wird weitaus mehr Kräfte brauchen und es wird eine ziemlich blutige Angelegenheit werden. Aus diesem Grunde glaube ich, dass er von den schon überdehnten russischen Streitkräften einige aus anderen Hotspots abziehen muss. Sie werden dort fehlen.
Und die ukrainische Regierung kann immer noch in den Westen des Landes ausweichen. Dort gibt es zwar Luftschläge, aber keine Bodentruppen.
Wenn die Nato eingreifen würden, stünden sich vier Nuklearmächte – nicht nur zwei – gegenüber.
Ein militärisches Eingreifen des Westens wird es definitiv nicht geben?
Nein. Wir dürfen nicht vergessen: Es stünden sich vier Nuklearmächte – nicht nur zwei – gegenüber, wenn die Nato eingreifen würde. Da besteht tatsächlich die Gefahr eines grossen Krieges an Europa, und zwar vom Nordkap bis zum Schwarzen Meer, der dann auch zur See und vielleicht auch im Weltraum stattfindet. Und vor allen Dingen besteht die Gefahr einer nuklearen Eskalation.
Genau das wird passieren: Putin wird genau das bekommen, was er vermeiden wollte, nämlich eine geeinte und gestärkte Nato und mehr Natokräfte an den Ostflanken.
Welche Schlüsse sollten die europäischen Staats- und Regierungschefinnen und -chefs daraus ziehen? Müsste man verstärkt in die militärische Infrastruktur investieren?
Genau das wird passieren: Putin wird genau das bekommen, was er vermeiden wollte, nämlich eine geeinte und gestärkte Nato und mehr Natokräfte an den Ostflanken. So ein Hasardeur wird er nicht sein, um auch noch Nato-Gebiet anzugreifen.
Ein isoliertes Russland und eine zusammengeschweisste Nato. Was heisst das für die Sicherheitslage in Europa mittel- und langfristig?
Es wird mehr Ausgaben für das Militär geben. Es geht um die Strukturen innerhalb der Nato. Gerade bei der deutschen Bundeswehr geht es darum, dass sie sich wieder auf die Landes- und Bündnisverteidigung fokussiert. Man sollte einsatzbereite, gut ausgerüstete, grosse Verbände haben. Da muss man investieren. Und diese Verbände müssen schnell einsatzbereit sein und den Bündnispartnern im Osten zur Seite stehen.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.