Die ukrainischen Truppen werden nach einem Bericht der «Washington Post» die strategisch wichtige Stadt Melitopol im Südosten des Landes nicht erreichen. Damit würde die Ukraine das Hauptziel ihrer Gegenoffensive, die Unterbrechung der russischen Landverbindung zur bereits seit 2014 völkerrechtswidrig annektierten Halbinsel Krim, verfehlen, berichtete die Zeitung. Sie berief sich dabei auf US-Geheimdienstkreise.
Mikhailo Podoljak ist Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski. Wenige Tage vor Erscheinen des «Washington Post»-Artikels traf SRF Podoljak in Kiew zum Interview. Mikhailo Podoljak äussert im Interview seine persönliche Meinung und eine ukrainische Perspektive auf den Kriegsverlauf.
SRF News: Wie reagieren Sie auf Druck von westlichen Partnern bezüglich des Tempos der laufenden Gegenoffensive der ukrainischen Armee?
Mikhailo Podoljak: Es wird nicht direkt Druck auf uns ausgeübt. Unsere westlichen Partner diskutieren untereinander, dass sie sich gewünscht hätten, dass die Gegenoffensive schneller verlaufen würde. Darauf antworten wir mit einer Frage: Gegen welche Armee kämpft die Ukraine? Ja, wir zerstören zurzeit die zweitgrösste Armee der Welt. Geben Sie uns Zeit dafür. Geben Sie uns Ressourcen. Sie möchten, dass der Krieg schneller zu Ende geht? Geben Sie uns dafür die nötigen Mittel.
Meiner Meinung nach liegt der entscheidende Fehler darin, dass Russland überschätzt wurde.
Die Situation an gewissen Abschnitten der Front im Osten des Landes ist nicht einfach. Ortschaften in der Region Kupjansk mussten zwangsevakuiert werden. Rechnen Sie damit, dass solche Evakuierungen in Zukunft häufiger werden?
Diese Evakuierung betrifft eine geringe Anzahl Menschen, die in einem Gebiet leben, welches durch russische Artillerie und die russische Luftwaffe stärker unter Beschuss genommen wird. Russland beschiesst Wohnhäuser, und dementsprechend versuchen wir Menschen aus jenen Regionen zu evakuieren, in welchen die Kampfhandlungen stark zugenommen haben. Das bedeutet nicht, dass sich die Front verschiebt. Im Gegenteil, an den Frontabschnitten läuft eine effektive Gegenoffensive in allen Richtungen. Unsere Aufgabe ist es, die russische Armee zu zerstören, vor welcher bisher noch alle Angst hatten. Wir werden es schaffen. Russland wird militärisch keine Bedrohung mehr darstellen.
Wann wird Russland aus Ihrer Sicht militärisch keine Bedrohung mehr darstellen?
Diese Frage richtet sich nicht nur an die Ukraine. Die Ukraine ist bereit, weiter Fortschritte zu machen und macht jeden Tag Fortschritte. Obwohl in den Lehrbüchern zu Kriegsführung steht, dass für die Durchführung einer effektiven Gegenoffensive vollumfängliche Unterstützung aus der Luft nötig ist. Ausserdem sei es nötig, die Oberhand bei gepanzerten Fahrzeugen und bei der Artillerie zu haben. Die Ukraine hat nichts von alldem und schreitet trotzdem voran. Die Beschleunigung des Tempos ist abhängig von den Geschossen, welche der Ukraine zur Verfügung stehen sollten.
Haben Sie persönlich damit gerechnet, dass die Gegenoffensive schneller verlaufen würde?
Nein, ich stehe dem, was gerade passiert, sehr objektiv gegenüber. Mich stimmt der bisherige Verlauf sehr optimistisch. Angesichts der vor Ort angehäuften Ressourcen Russlands und angesichts der grossen Bedeutung, diese Verteidigungslinien zu durchbrechen, verläuft alles so, wie es der Generalstab der ukrainischen Armee geplant hat.
Alle Vorstellungen, man könne sich mit Russland an den Verhandlungstisch setzen, sind fehl am Platz.
Haben westliche Partner unterschätzt, wie viel Zeit Russland hatte, um sich auf die Gegenoffensive vorzubereiten?
Ich möchte nicht allgemein von westlichen Partnern sprechen, sondern es sind immer einzelne Akteure. Meiner Meinung nach liegt der entscheidende Fehler darin, dass Russland überschätzt wurde. Russlands militärische Fähigkeiten wurden nicht richtig eingeschätzt, es fehlte an Wissen über die russische Waffenindustrie und den Zustand der russischen Armee. Unter diesen Voraussetzungen kam man zum Schluss, dass man sich vor Russland zu fürchten habe. Dies sehen wir auch weiterhin während des Krieges.
Was für ein Einfluss hat diese aus ihrer Sicht nicht korrekte Einschätzung in der Ukraine?
Wir versuchen, unseren Partnern zu erklären, dass wir längst einen Punkt erreicht haben, an dem es keinen Weg zurück gibt. Jemand muss diesen Krieg gewinnen. Alle Vorstellungen, man könne sich mit Russland an den Verhandlungstisch setzen, sind fehl am Platz. Denn Russland bittet nur darum, sich an den Verhandlungstisch zu setzen, damit die eigenen Fehler korrigiert werden und zusätzliche Ressourcen angehäuft werden können, um erneut anzugreifen.
Schätzt die Schweizer Regierung Ihrem Eindruck zufolge die Situation korrekt ein?
Eine schwierige Frage. Je weiter man vom Krieg entfernt ist, umso weniger ist er zu spüren. Je näher man an russischen Geldströmen ist, umso stärker ist dieser Geldstrom spürbar. Ist man in einem anderen Land tausende Kilometer vom Epizentrum entfernt, wie soll man den Krieg wahrnehmen? Das sind andere Interessen, und darin liegt die Schwierigkeit.
Das Gespräch führte Luzia Tschirky.