Zehn Tage nach Kriegsbeginn sind die russischen Streitkräfte – trotz Gebietsgewinnen im Osten, Norden und Süden des Landes – von einem Sieg weit entfernt. Wieso ist das so? Und ist der Krieg mit Ereignissen im 20. Jahrhundert vergleichbar? ETH-Sicherheitsexperte Mauro Mantovani ordnet ein – und rät von der Verwendung der Bezeichnung «Blitzkrieg» ab.
SRF News: Marschieren Putins Soldaten in der Ukraine wirklich nicht so rasch wie geplant vorwärts?
Mauro Mantovani: Wir können aufgrund des monatelangen Aufmarsches und des anfänglich hohen Operationstempos annehmen, dass die Russen einen rascheren Sieg erwartet haben.
Hat Putin die Wehrkraft der ukrainischen Streitkräfte unterschätzt?
Offensichtlich hat er das. Ukrainerinnen und Ukrainer haben seit den 1930er-Jahren viele negative Erfahrungen mit Russland gemacht. Sie fühlen sich durch die russische Rhetorik von der Ukraine als «Russlands kleinem Bruder» herabgesetzt und seit der Annexion der Krim und der de-facto-Abtrennung des Donbass 2014 in ihrer Souveränität bedroht. Daher setzen sie sich nun, wo das Überleben ihres Staates infrage steht, energisch zur Wehr.
Kann die russische Invasion dennoch gelingen?
Militärisch könnte Russland in der Ukraine immer noch erfolgreich sein – im Sinne eines Regimewechsels in Kiew, den ich weiterhin erwarte. Anschliessend droht ein Guerillakrieg, in welchem die ukrainische Bevölkerung mit Veteranen ihrer Armee und westlicher Unterstützung weiterkämpfen wird und der sich über Jahre hinziehen könnte. Das dürfte die russischen Streitkräfte in einer Weise auszehren wie der Afghanistankrieg in den 1980er-Jahren.
Langfristig wird der Ukraine-Krieg Russland massiv schwächen. Was als Bedrohung für Westeuropa bleiben wird, ist das nukleare Potenzial Russlands.
Ich erwarte ferner, dass die russische Armee auch unter den wirtschaftlichen Folgen der westlichen Sanktionen leiden wird. Sie dürfte auf Jahre hinaus keine raumgreifenden Operationen mehr durchführen können. Langfristig wird der Ukraine-Krieg Russland massiv schwächen. Was als Bedrohung für Westeuropa bleiben wird, ist das nukleare Potenzial Russlands.
Die Ukrainekrise könnte also länger dauern. Dann kann man die russische Invasion nicht mit einem Blitzkrieg vergleichen?
Jede Kriegspartei will den Krieg möglichst kurz halten. Das Konzept «Blitzkrieg» ist eine Wunschvorstellung eines raschen, unblutigen Sieges, die nur selten Realität wurde. Am ehesten trifft die Bezeichnung noch für den Sechstagekrieg 1967, für die US-Feldzüge im Irak 1991 und in Afghanistan 2001 zu. Schon der «Blitzkrieg» der Deutschen Wehrmacht gegen Frankreich 1940 wird in der Forschung als Propaganda bezeichnet.
Der Konflikt in der Ukraine dürfte also noch auf Jahre hinaus schwelen, ehe die Russen abziehen werden – und zwar als Verlierer.
Schreiten Kriege im 21. Jahrhundert mit modernen Waffen schneller voran als früher?
Das ist abhängig von den Kräfteverhältnissen und der Konfliktkonstellation. Die digitale Revolution hat eine viel schnellere Vernetzung von Sensoren, Entscheidungsprozessen und Waffen ermöglicht. Dies hatte aber nicht immer eine Verkürzung des Krieges zur Folge. Im 20. Jahrhundert gab es mehrere Konflikte, die sich – trotz massiver technologischer Überlegenheit einer Seite – über Jahre hinzogen.
Auch in der Ukraine könnte der Krieg über Jahre andauern.
Ich denke da an den Vietnamkrieg oder an jenen in Afghanistan nach der Vertreibung der Taliban 2001 bis 2021. Das waren jahrzehntelange, irreguläre Kriege, also solche, in denen Staaten und nichtstaatliche Akteure einander gegenüberstanden. Ebendies erwarte ich auch in der Ukraine.
Russland hat noch nicht seine gesamte militärische Schlagkraft entfaltet. Worauf müssen wir uns einstellen?
In den nächsten Wochen ist mit dem Einsatz von Raketenartillerie, Kanistermunition und thermobarischen Waffen, also Aerosolbomben, zu rechnen. Die nächste Phase des Krieges, der Guerillakrieg, wird vor allem für die Russen verlustreich sein. Das Risiko einer atomaren Eskalation schätze ich als sehr gering ein. Nuklearwaffen in der Ukraine einzusetzen, ergibt militärisch keinen Sinn. Und ich glaube auch nicht, dass die ukrainische Seite dadurch abgeschreckt werden könnte.
Das Interview führte Laura Sibold.