Aus Ärger über «Verrat» hat Präsident Wolodimir Selenski die Chefs von Geheimdienst und Generalstaatsanwaltschaft abgesetzt. Aus diesen Behörden seien mehr als 60 Mitarbeiter in den russisch besetzten Gebieten geblieben und kollaborierten mit dem Feind, sagte Selenski am Sonntagabend in Kiew. Gibt es tatsächlich massenhaft Russland-Kollaborateure im ukrainischen Sicherheitsapparat? Einschätzungen von David Nauer, dem langjährigen SRF-Korrespondenten in Moskau.
SRF News: Wieso wirft Selenski Teilen der Sicherheitsbehörden Verrat vor?
David Nauer: Der Geheimdienst und die Generalstaatsanwaltschaft sollen dafür verantwortlich sein, dass Hunderte Leute aus dem Sicherheitsapparat zu den Russen übergelaufen sind. Mehr noch: Geheimdienstler sollen den Russen selbst zugearbeitet haben oder tun es laut Selenski immer noch. Dafür müssen nun die beiden Behördenchefs den Hut nehmen und damit die politische Verantwortung übernehmen.
Wie durchdrungen ist der Geheimdienst mit Leuten, die mit Russland kollaborieren?
Das im Detail zu beurteilen, ist schwierig. Aber soweit man weiss, sind Verräter in den eigenen Reihen vor allem im Süden der Ukraine ein Problem – oder ein Problem gewesen. Die Russen sind dort im Februar von der besetzten Krim aus sehr schnell und sehr tief ins ukrainische Kernland vorgedrungen. Dabei haben sie offenbar Hilfe von Leuten aus dem ukrainischen Geheimdienst bekommen.
Es war Verrat, der den Russen im Süden der Ukraine die Tür geöffnet hat.
So wussten die Russen etwa, wo die ukrainischen Minenfelder waren und konnten diese gezielt umfahren. Offenkundig hatte jemand den Russen die Informationen, wo diese Minen liegen, gesteckt. Auffällig ist auch, dass eine wichtige Brücke über den Fluss Dnepr nicht gesprengt wurde – obwohl sie eigentlich hätte gesprengt werden sollen. So konnten die Russen die Stadt Cherson mühelos erobern. Zusammenfassend kann man sagen: Es war Verrat, der den Russen im Süden der Ukraine die Tür geöffnet hat.
Mitten im Krieg traut Selenski seinem Geheimdienst und der Staatsanwaltschaft nicht mehr. Was bedeutet das für die Ukraine?
Es zeigt, dass die Ukraine ein Problem hat und die Sicherheitsbehörden zum Teil nicht gut funktionieren. Das hat auch strukturelle Gründe. Denn der ukrainische Geheimdienst ist eigentlich eine Nachfolgesektion des sowjetischen KGB. Es gibt noch Leute, die sozusagen Verbindungen zur alten Zentrale in Moskau haben. Dazu kommen verkrustete Strukturen im ukrainischen Geheimdienst.
Trotz der Verräter hält der ukrainische Staat dem russischen Ansturm stand.
Diese Probleme gibt es also in der Ukraine. An vielen Orten funktionieren Geheimdienst, Polizei und natürlich auch die Armee aber viel besser und sind weit stärker als erwartet. Der Krieg dauert nun bald fünf Monate, und die Ukrainer verteidigen ihr Land erfolgreich. Trotz der Verräter hält der ukrainische Staat dem russischen Ansturm stand.
Das Gespräch führte Mario Sturny.