SAP, Oracle, Microsoft, Nokia, Deutsche Telekom: Das sind nur ein paar von vielen ausländischen Technologie-, IT und Telekomfirmen, die sich wegen des Angriffskrieges auf die Ukraine aus Russland zurückgezogen haben.
Seither gibt es für russische Kunden keine Updates mehr für Software, Ersatzteile werden nicht mehr geliefert, Serviceverträge sind storniert, am anderen Ende von Hotlines nimmt niemand mehr ab.
Massive Schäden für russische IT
Wer Technologie-Blogs verfolgt, bekommt den Eindruck, die russische IT- und Telekominfrastruktur stünde deshalb kurz vor dem Kollaps. Für Firmen wie Gazprom, Aeroflot oder auch Banken, die beispielsweise Software von SAP nutzten, sei der Rückzug der westlichen Firmen ein Desaster, schreiben Blogger. Die Systeme würden bald nicht mehr laufen.
Auch russische Firmen sind angewiesen auf Updates und neue Produkte.
Bei den westlichen IT-Konzernen will sich niemand dazu äussern, wie sehr die IT-Infrastruktur Russlands wegen des Boykotts derzeit Schaden nimmt.
Einer, der sich dazu äussert, ist Konstantin Sonin, russischer Wirtschaftsprofessor an der Universität Chicago. Er sagt, die Schäden seien massiv. Viele russische Firmen würden ausländische IT-Technologie nutzen. «Sie sind angewiesen auf konstante Updates und neue Produkte», so Sonin.
Systeme laufen weiter – aber nicht optimal
Aber natürlich laufe installierte Hardware und Software kurzfristig weiter, auch ohne Updates und Support. Deshalb würden die russischen Firmen nicht im wörtlichen Sinne kollabieren.
«Gazprom beispielsweise wird deshalb seine Dienstleistungen nicht plötzlich einstellen», sagt Sonin. Allerdings müssten Gazproms IT-Techniker in Hard- und Softwaresysteme eingreifen, sie anpassen und allenfalls kurzfristige Alternativen suchen.
Das jedoch mache die IT-Systeme langsamer, unsicherer und ineffizienter, sagt Sonin. Der Betrieb werde schwieriger – es werde sein wie zu Sowjetzeiten: operabel, aber ineffizient und antiquiert.
Suche nach Workarounds
Ähnlich über die russische IT-Infrastruktur äussert sich der Winterthurer Telekomexperte Fredy Künzler. Sie habe ja nicht am Tag des Rückzugs der westlichen Firmen aufgehört zu laufen. «Die örtlichen Techniker wissen, wie man Mobilfunkanlagen und Internetinfrastruktur betreibt.»
Bei Defekten suche man nach Alternativlösungen oder beschaffe sich Ersatzteile auf dem Graumarkt. Der Rückzug von Techfirmen aus Russland wirke sich deshalb vor allem mittel- und langfristig aus.
Immenser Braindrain hat Folgen
Folgen wird auch die Auswanderung von bis zu 200'000 der total rund 1.3 Millionen IT-Fachkräften aus Russland seit Beginn des Kriegs am 24. Februar haben. Sie sehen in der Heimat keine Zukunft mehr. Der Braindrain im IT-Sektor sei gewaltig, sagt Sonin.
Nur gelte auch hier: «Wenn 100'000 IT-Spezialisten Russland verlassen, kommen neue IT-Spezialisten nach. Diese sind zwar schlechter ausgebildet, unerfahren, haben weniger Knowhow. Aber das bedeutet nicht das Ende der IT-Industrie als Ganzes.»
Auch wenn 100'000 IT-Spezialisten Russland verlassen: Das bedeutet nicht das Ende der IT-Industrie als Ganzes.
Die Expertise dieser IT-Industrie sinke aber stark, sagt der russische Ökonom in Chicago. Dasselbe passiere mit dem Niveau der ganzen russischen Wirtschaft, die jetzt schon ächze.
Es gebe kein Land auf der Welt, das unter Wirtschaftssanktionen gewachsen sei oder sich weiter entwickelt habe, blickt Konstantin Sonin zurück. Das werde auch bei Russland so sein.