Es ist 1.30 Uhr nachts, als wir Abu Ahmad in Idlib über WhatsApp erreichen. Seine Nummer haben wir von ein paar seiner Freunde erhalten, die in der jordanischen Hauptstadt Amman leben. Weil die Verbindung schlecht ist, nehmen wir unsere Fragen als Sprachnachricht auf, schicken sie ihm und warten, bis er uns seine Antwort sendet. Manchmal müssen wir lange warten, denn Ahmad nimmt seine ganze vom Krieg geprägte Lebensgeschichte auf.
Ausführlich erzählt er besonders vom Krieg in Daraya, einem Vorort von Damaskus. Hier wuchs der Buchhalter Abu Ahmad auf, leistete seinen Dienst in der syrischen Armee. Als die Armee 2012 seine Heimatstadt angriff, desertierte er und wechselte die Fronten.
Belagerung und Fassbomben
Was er danach in Daraya erlebte, ist längst als grausames Kapitel des Syrien-Krieges bekannt: Der Stadtteil wurde fast vier Jahre lang belagert, ausgehungert, eingeäschert.
Hier leben Tausende Assad-Gegner, die kein gemeinsames Ziel haben und nicht organisiert sind.
Abu Ahmad erzählt von den Fassbomben – deren Einsatz die syrische Regierung stets bestritten hat – und vom Hunger. Und wie sie trotz allem ausharrten, bis die Regierung den Rebellen 2016 überraschend die Evakuierung nach Idlib anbot, zusammen mit ihren Familien.
Bespucken und verfluchen
Auf der Reise nach Idlib folgte die grosse Ernüchterung: Am Wegesrand standen Menschen, die sie bespuckten und verfluchten, ihnen Bilder von Präsident Baschar al-Assad entgegenstreckten. Vom Stimmungwandel im Land hatten sie nach vier Jahren Belagerung in Daraya keine Ahnung. Nicht einmal ihre Freunde hatten ihnen davon geschrieben, um sie nicht noch mehr zu demoralisieren. Umso grösser war der Schock, und sie hinterfragten sich, ob die Assad-Anhänger doch im Recht seien und ihr Kampf falsch gewesen sei.
Die psychische Belastung, die Frustration, welche die Evakuierung von Daraya nach Idlib hinterlassen hat, hört man Abu Ahmads Stimme an.
Angst und Hoffnung
Vor einer Offensive der syrischen Armee auf Idlib hat er Angst. «Hier leben Tausende von Assad-Gegnern, radikale und weniger radikale, die aber überhaupt kein gemeinsames Ziel haben und nicht organisiert sind.» Das erschwere einen koordinierten Kampf gegen Assads Truppen.
Nachts um 2.05 Uhr erhalten wir die letzte Sprachnachricht von Abu Ahmad aus Idlib. «Manchmal denke ich, wir hätten alles verloren.» Trotzdem hoffe er auf Licht am Ende des Tunnels.
Glauben und Revolution
Am nächsten Nachmittag erreichen wir Mohammed, einen Arabischlehrer und Aktivisten aus Homs, der 2014 auf vielen Umwegen aus der belagerten Stadt in die Provinz Idlib flüchtete.
Jetzt aufgeben wäre Verrat an den Märtyrern.
Auch ihn erreichen wir über WhatsApp, kommunizieren mit aufgezeichneten Sprachnachrichten. Er wohnt jetzt mit seiner Familie in Adme, unweit der türkischen Grenze. Auch er erzählt von der Angst in der Region vor einer Offensive der syrischen Armee. Aber im Gegensatz zu Abu Ahmad glaubt er noch an einen Sieg der Revolution.
Kampf und Verrat
Es stimme zwar, dass es viele verschiedene Rebellengruppen gebe, die nicht koordiniert seien. «Aber wir haben gar keine andere Wahl, als zu kämpfen.» Acht Jahre lang hätten die Syrer gekämpft. «Jetzt aufgeben wäre Verrat an all jenen Märtyrern, die mit ihrem Leben für diesen Kampf gestorben sind oder noch in den Gefängnissen ausharren.» Diese dürfe man jetzt nicht vergessen.
Für wen er kämpft, will Mohammed nicht sagen, nur, dass er bis zum Ende seiner Tage für sein Ideal eines friedlichen, freien Syriens kämpfen will. «Koste es, was es wolle.» Zum Schluss nimmt er einen flammenden Appell an alle Syrer auf, die irgendwo in der Welt verstreut sind: Dass sie Syrien nicht vergessen sollen.
Man hört seine Kinder reden im Hintergrund. Sie wolle er in Sicherheit bringen, bevor der Kampf beginne, sagt er und verabschiedet sich.