Die jüngsten Berichte über die Leichen libanesischer Staatsbürger, die Behörden aus dem Meer bergen, bestürzen die libanesische Bevölkerung – elendiglich waren sie verdurstet oder ertrunken. Die Überlebenden berichten, wie sie Zahnpasta assen, weil sie nichts anderes zu essen hatten.
Solche Berichte schrecken den 22-jährigen Abed el Rahman Saade aus Tripoli jedoch nicht davon ab, selbst von der illegalen Überquerung nach Zypern zu träumen. «Ich frage nicht, ob ich dabei sterben werde. Ich will eine Zukunft. Hier lebe ich in der Hölle», sagt der junge Mann, der einen Bachelor in erneuerbaren Energietechnologien für Heizungs- und Kühlsysteme hat.
Ich frage nicht, ob ich dabei sterben werde. Ich will eine Zukunft. Hier lebe ich in der Hölle.
Weiterstudieren kann er nicht – dafür hat er kein Geld. Zusammen mit seinen Eltern und seinen beiden Geschwistern lebt er in einer kleinen Zweizimmerwohnung. «Ausser mir haben alle Corona. Sie bleiben jetzt zusammen in einem Zimmer, ich im anderen Zimmer.»
900 Franken für eine Überfahrt
Für eine echte Quarantäne ist kein Platz. Im Spital bekommt seine Familie keine Pflege, wofür Abed eine zynische Erklärung hat. Je mehr Corona-Kranke Libanon habe, desto mehr Geld erhofften sich seine korrupten Politiker von der internationalen Gemeinschaft.
Doch das Geld werde bei den Armen aber nie ankommen. «Die armen Leute gehen in die Hölle», sagt er bitter. Der junge Mann muss für seine coronakranke Familie Lebensmittel auf Pump kaufen und die Schulden später zurückzahlen, sobald der Vater wieder arbeiten kann.
Umgerechnet rund 900 Franken verlangen Schmuggler für einen Platz auf einem überfüllten Flüchtlingsboot nach Zypern – zu viel für Abed. Könnte er das Geld auftreiben, würde er die Überfahrt allerdings wagen – trotz Lebensgefahr oder der drohenden Rückschaffung nach Libanon durch die zyprischen Behörden.
Zunahme von Flüchtlingen aus Libanon
Anfang September schickte Zypern nach eigenen Angaben über 200 Syrer und Libanesen zurück. Das UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR bestätigt die Zunahme von Bootsflüchtlingen aus Libanon Richtung Zypern.
Zu den schrecklichen Berichten sagte der libanesische Staatspräsident Michel Aoun, dass der Menschenschmuggel härter bekämpft werden müsse. Mehr Stipendien oder Arbeitsplätze für junge Menschen stellte er nicht in Aussicht. Doch dies wäre das Einzige, was Abed längerfristig davon abhalten kann, auch ein Bootsflüchtling zu werden.