An eine Katastrophe, wie sie sich später an diesem Tag in Beirut ereignen wird, denkt Abdul Rahman Haji an diesem Nachmittag nicht. Der 14-Jährige wohnt in einem der ärmsten Viertel im Zentrum der Hafenstadt Tripoli, zwei Autostunden nördlich von Beirut. Für den dünnen Jugendlichen ist jeder Tag eine Katastrophe. «Alle hungern hier, niemand hat Geld, es ist dreckig, es stinkt, überall Ratten und Schlangen im Abfall!»
«Gibt es bei Ihnen daheim auch so etwas Hässliches? In Libanon haben wir keine Regierung!» Abdul klopft auf eine defekte Wasserleitung.«Kein Wasser! Und nur eine Stunde Strom am Tag!» Dafür verlange die Regierung noch Geld, sagt Abdul. Die miserablen Lebensbedingungen in seinem Quartier sind hier keine Ausnahme. Tripoli ist Libanons ärmste Stadt. Mit dem Zerfall des libanesischen Pfunds gegenüber dem US-Dollar sind die Lebensmittelpreise seit Anfang des Jahres um das Vier- bis Achtfache gestiegen.
«Ein Leben wie Abfall»
«Niemand hat etwas zu essen, und die Parlamentarier lehnen sich zurück!» Seit zehn Monaten geht Abdul nicht mehr zur Schule. Im letzten Herbst nahm er täglich an den Massenprotesten gegen die Regierung teil, dann kam der Corona-Lockdown.
«Ohne Schule sind die Kinder auf der Strasse,» sagt Abdul. Alle betteln, oder sammeln, wie er, für etwas Geld Abfall. Die Regierung sage, das gehe sie alles nichts an. Kein Wunder fänden hier Extremisten Gefolgschaft, so Abdul. In den Armenvierteln Tripolis rekrutierten Jihadisten Kämpfer für den Krieg in Syrien.
«Wenn mich niemand will, kann ich mich doch gleich vor einem Gebäude in die Luft jagen,» beschreibt der Jugendliche die Verzweiflung in seinem Quartier in Tripoli. «Ein Leben wie Abfall – wie sollen wir so überleben?»
«Wir sind ein korruptes Volk»
In einem Spital auf der anderen Seite der Stadt verdient der Chirurg Mustafa Allouche kaum noch Geld mit seiner Arbeit. Weil immer weniger Leute bezahlen können. «Für eine Operation, die früher tausend Dollar kostete, bekomme ich heute noch 50, vielleicht 70 Dollar. Ich mache Eingriffe auch gratis,» sagt Allouche.
Der 62-jährige sunnitische Muslim sass im libanesischen Parlament als Abgeordneter der Zukunftsbewegung. In der Partei, die vom ehemaligen, 2005 ermordeten Premierminister Rafiq Hariri gegründet worden war. Nach vier Jahren hatte er genug. «Wir sind ein korruptes Volk», sagt er. Staatsbürger seien seine Landsleute nicht.«Wir sind ein Haufen von verschiedenen Stämmen auf demselben Land,» sagt Allouche.
Die Stammesführer seien religiöse Clan-Chefs, die unfähig seien, für einen Gesamtstaat zu denken und diesen aus seiner tiefen Krise zu heben. Eine Krise, die die Armen noch ärmer gemacht habe, und den Mittelstand verarmen lasse.
Bis vor Kurzem hätten vor allem Leute im Mittelstand noch Hoffnung auf eine Veränderung, bevor es zur Katastrophe kommen würde. Spätestens mit der Coronakrise hätten sie diese Hoffnung verloren. «In sechs Monaten werden wir nicht mehr den gleichen Libanon sehen.» Allouches Worte klingen schon fast prophetisch.
«Verantwortungslose Schlamperei»
Nur wenige Stunden später trifft Libanon eine Katastrophe, die alles Dagewesene übertrifft. Um 6 Uhr abends an diesem 4. August zerstört eine gewaltige Explosion grosse Teile der Hauptstadt Beirut.
Im Hafen lagerten jahrelang mehr als 2700 Tonnen Ammoniumnitrat, ohne besondere Sicherheitsvorkehrungen. In einer einzigen Sekunde verlieren Hunderttausende Menschen alles. Rund 200 sterben, mehr als 6000 werden verletzt.
Eine verantwortungslose Schlamperei, die sämtliche Grenzen sprenge, sagt Fahdy Ahmar, ein bekannter Fernseh-Politkommentator und Professor für Geopolitik in Beirut.
«Es gibt Dokumente, die belegen, dass unter anderem ein libanesischer Geheimdienstchef den Staatspräsidenten und den Premierminister vor einigen Monaten gewarnt habe, dass im Hafen von Beirut eine Zeitbombe lagere.»
Getan hätten sie nichts, sagt Fahdy Ahmar. Der Professor sitzt nach der Explosion, wie viele andere in Beirut auch, in einem beschädigten Büro.
Tonnenweise Giftstoffe im Hafen «vergessen»
Etwas ausserhalb von Beirut liegt das Büro des Parlamentsabgeordneten Edy Maalouf. Der 48-jährige Katholik ist Mitglied der sogenannten Freien Patriotischen Bewegung, wie Staatspräsident Michel Aoun. Von Beruf ist er Hotelmanager – seinen Abschluss hat er an der Universität Lausanne gemacht. Die Explosion habe er selbst 34 Kilometer ausserhalb von Beirut gehört und zunächst einen Luftangriff oder ein Attentat vermutet. Die offizielle Darstellung, es sei ein Unfall gewesen, bezweifelt er.
«Warum habe ich vor der Explosion Flugzeuglärm gehört?», fragt er. «Ständig kreisen irgendwelche Kampf- oder Aufklärungsflugzeuge über Libanon, wir kennen dieses Geräusch doch!»
Tatsächlich glaubt ein Teil der Bevölkerung, die Explosion habe etwas mit den jüngsten Spannungen zwischen Israel und der radikal-islamischen Hisbollah-Miliz zu tun. Andere halten das für Ablenkungsmanöver. Der wahre Skandal ist für sie die Tatsache, dass die Regierung untätig war, obwohl auch Medien über das Schiff berichtet hatten, das die gefährliche Fracht nach Beirut gebracht hatte.
«Das war 2014, das haben wir doch seither vergessen!», sagt Edy Maalouf. Staatspräsident Michel Aoun wies politisch jede Verantwortung von sich und liess Mitglieder der Hafenbehörde verhaften. Edy Maalouf will nicht ausschliessen, dass die Verantwortlichen weiter oben zu suchen seien.
Die EU-Wahlbeobachter fanden die Wahlen vor zwei Jahren im Grossen und Ganzen frei und fair.
Es gibt eine ganze «Mafia» im Staat: Politiker, die mit Bankern, Geschäftsleuten, Öl- und Zementproduzenten unter einer Decke stecken. «Deshalb brauchen wir eine starke Justiz!» Maalouf betont, wie aktiv sich seine Partei gegen Korruption einsetze und die Aufhebung des Bankgeheimnisses fordere, damit Politiker ihr Geld nicht mehr im Ausland verstecken könnten.
Den Pauschalvorwurf, alle libanesischen Politiker seien korrupt, lässt er nicht gelten. «Dann führen wir halt einen Scanner ein, der jeden Politiker durchleuchtet. Unsere Partei ist sofort dafür!», sagt der Parlamentsabgeordnete Edy Maalouf.
Auf den Strassen Beiruts schreien Zehntausende: «Alle Politiker müssen weg, alle!» Edy Maalouf begreift sie nicht.«Vor zwei Jahren hatten wir Wahlen. Die EU-Wahlbeobachter fanden sie im Grossen und Ganzen frei und fair. Nun wollen die Leute diese politische Elite nicht mehr – dann können sie ja in acht Monaten andere Vertreter wählen.»
Wenn sich die Libanesen nicht drastisch ändern, werde ich Libanon verlassen und nie wiederkommen.
Die Architektin und Aktivistin Sara Jaafar hat kein Verständnis mehr für die Anhänger der etablierten politischen Parteien.
«Jetzt sind wir im Krieg, und es gibt nur noch zwei Seiten: Wer nicht gegen diese Parteien ist, ist nicht mehr mein Freund!» Die 34-Jährige, die sich selbst zur oberen Mittelschicht zählt, hat in der Explosion alles verloren – ausser ihr Leben und die Kleider, die sie trägt. «Sie sind Kriminelle, alle! Und sie müssen zahlen, für das, was sie getan haben,» sagt sie. Ein paar Beamte zu verhaften sei nicht genug. «Wenn sich die Libanesinnen und Libanesen nicht drastisch ändern, werde ich Libanon verlassen und nie wiederkommen.»
4000 Libanesen verliessen ihr Land pro Tag
Ein paar Tage nach der Explosion trat die Regierung zurück, aber es sind dieselben Politiker, die sich jetzt auf vorgezogene Neuwahlen vorbereiten. Libanon kämpfe um sein Überleben, sagt Roy Badaro, ein renommierter 66-jähriger Ökonom und Unternehmer in Beirut.
«Nicht das Ausmass der Zerstörung bestimmt, ob wir überleben. Entscheidend ist, ob die Menschen noch Hoffnung, das Vertrauen in den Wiederaufbau haben.»
In den ersten drei Wochen nach der Explosion haben pro Tag über 4000 Libanesinnen und Libanesen ihr Land verlassen – 1000 mehr als sonst. Zurückkommen wollen sie nicht mehr. Das zeigt eine Umfrage der Beiruter Forschungs- und Beratungsfirma Information International. Es sind auch jetzt vor allem Christen, die ihrem Land den Rücken kehren. Auch, weil sie am besten vernetzt sind in Europa.
«Alle entwaffnen, Friedenstruppen, und ein System wie die Schweiz.»
Diese Abwanderung schade auch den Muslimen, so Badaro. Die Schiiten etwa seien gespalten in Hisbollah-Anhänger, von denen manche einen Gottesstaat nach iranischem Vorbild wollten, und in jene, die damit nichts am Hut hätten.
Der christliche Roy Badaro war immer gegen die Machtaufteilung zwischen den verschiedenen konfessionellen Gruppen. Er trat für ein weltliches System ein, das auf der Trennung von Staat und Religion beruht. «Es geht doch in einem Staat nicht darum, wer sich wie viel vom Kuchen abschneiden kann! Wir werden von Banditen regiert,» sagt er. Dabei gebe es aus jeder konfessionellen Gruppierung genug fähige junge Leute, die das Land voranbringen könnten. Aber ohne Hilfe von aussen hätten diese keine Chance.
Zuerst alle entwaffnen – nicht nur die mit Abstand am stärksten bewaffnete Hisbollah, ein neues UNO-Mandat und Friedenstruppen, und dann eine Föderation nach Schweizer Vorbild, mit seinen Kantonen.
So sieht Badaros Wunschtraum für Libanon aus. «Libanon könnte eine Hoffnung sein für Europa und den Orient, ein Modell, wie Christen und Muslime zusammenleben können, sich miteinander auseinandersetzen,» sagt der Ökonom Roy Badaro. Davon scheint Libanon im Moment weiter weg denn je.