Schon vor der verheerenden Explosion ging es den Menschen im Libanon schlecht. Nun zeigen sie ihre Wut gegen die Regierung mit Protesten auf der Strasse. Daniel Gerlach spricht über die nötigen politischen Veränderungen im Land.
SRF News: Ist die Wut der Menschen nach dieser verheerenden Explosion überhaupt noch zu kontrollieren?
Daniel Gerlach: Diese Explosion steht am Ende einer Kette von katastrophalen Ereignissen im Libanon. Es ist nicht klar, ob die Wut noch zu kontrollieren ist. Auf der Strasse sind alle Menschen gegen alle Politiker. Sie finden das gesamte System korrupt und abgewirtschaftet. Aber es ist komplizierter, denn Teile der Bevölkerung profitieren von dem System. Der Libanon ist keine Diktatur, sondern eine sehr defizitäre Demokratie.
Warum konnte das Angebot des Ministerpräsidenten, baldige Neuwahlen durchzuführen, die Protestierenden nicht beruhigen?
Man hat genügend Wahlen im Libanon abgehalten, an der Lage hat sich aber nie etwas geändert. Das sieht man auch daran, dass das Land drei Jahre ganz ohne Regierung ausgekommen ist. Die Diskussion über Neuwahlen fand schon letztes Jahr statt, auch über die temporäre Einrichtung einer Regierung der nationalen Einheit oder über ein Kabinett von Technokraten. Viele Menschen sind aber zu dem Ergebnis gekommen, dass das gesamte politische System und das Wahlsystem nicht mehr zeitgemäss sind.
Dieses System wurde missbraucht und hat dazu geführt, dass viele der grossen Familien, auch Milizenführer und Oligarchen, die Macht unter sich aufgeteilt haben.
Die politischen Ämter in der Regierung sind nach religiös-ethnischen Kriterien verteilt. Wenn man dieses System abschaffen würde, würde das den inneren Frieden gefährden?
Natürlich besteht die Gefahr, dass Teile der Bevölkerung und bestimmte Gruppen sich von der Regierung nicht vertreten fühlen. Diese libanesische Republik wurde aufgebaut, um die Macht unter den Konfessionsgemeinschaften zu verteilen. Denn der Libanon ist ein Land, das aus vielen verschiedenen Konfessionsgemeinschaften besteht. Dieses System wurde missbraucht und hat dazu geführt, dass viele der grossen Familien, auch Milizenführer und Oligarchen, die Macht unter sich aufgeteilt haben und dafür nie zur Verantwortung gezogen wurden. Das bezieht sich auf den Bürgerkrieg, aber auch auf die Zeit danach.
Es scheinen grosse Herausforderungen zu sein, mit denen die Libanesen konfrontiert sind. Schaffen sie das?
Grundsätzlich denke ich, dass die libanesische Bevölkerung intellektuell, vom Wissens- und Bildungsstandard her in der Lage ist, eine Demokratie umzusetzen. Es wäre auch möglich, eine Direktwahl des Präsidenten zu etablieren und Wahlen ohne dieses Proporzsystem durchzuführen. Das wäre allerdings ein grosses politisches Experiment.
Nach der Explosion wurden über 250 Millionen Euro Soforthilfe an der Geberkonferenz gesprochen. Werden damit nicht die alten Eliten gestärkt, die einen Neuanfang blockieren?
Die Protestierenden sind der Meinung, dass die internationale Unterstützung die alten Machtverhältnisse nicht zementieren dürfe. Sonst lehnen sie die Unterstützung ab. Die internationale Gemeinschaft muss sich darüber im Klaren sein.
Einige der führenden Köpfe der politischen Parteien, Milizen und Familienclans müssen abtreten oder dazu gezwungen werden.
Was bräuchte es für einen politischen Neuanfang?
Es braucht tatsächlich einen Verfassungswechsel. Mit Neuwahlen ist es nicht getan, man braucht ein neues Wahlrecht. Einige der führenden Köpfe der politischen Parteien, Milizen und Familienclans müssen abtreten oder dazu gezwungen werden. Das schliesst die Führung der Hisbollah ein. Es ist mir bewusst, dass dies eine schwere Aufgabe ist. Aus dem Ausland kann ich das leicht anraten.
Das Gespräch führte Marlen Oehler.