Der libanesische Staat ist durch Wirtschaftskrise, Korruption sowie Corona stark angeschlagen und scheint handlungsunfähig. Viele Libanesinnen und Libanesen sprechen von einem «failed state» – einem gescheiterten Staat. Das stimme jedoch nur teilweise, sagt der Politikwissenschaftler Tobias Hagmann.
SRF News: Was ist unter einem «failed state» zu verstehen?
Tobias Hagmann: Eine Definition besagt, dass ein Staat total versagt hat, wenn er die Aufgaben, die er eigentlich erfüllen sollte, nicht mehr wahrnehmen kann.
Fällt der Libanon unter diese Definition?
Nur teilweise. Staatsversagen ist ein gradueller Prozess. Der Staatszerfall ist oft partiell und betrifft oft nur ein Politikfeld. Es gibt viele Grautöne. Die Prozesse sind nicht immer so sichtbar wie jetzt im Libanon, wo eine Explosion alle Defizite des Staats der Welt vor Augen geführt hat.
Gibt es typische Ausgangssituationen für ein Staatsversagen?
Ein Hauptgrund sind Gewaltkonflikte wie Bürgerkriege. Lang anhaltende Konflikte schwächen staatliche Institutionen. Staaten können sich nicht mehr um ihre Bevölkerung kümmern. Staatsversagen gibt es aber auch in starken westlichen Staaten. Das kann einzelne Politikfelder, Quartiere, Regionen oder Bevölkerungsgruppen betreffen. Um ein etwas provokatives Beispiel zu nennen: Der im westlichen Vergleich beträchtliche Anteil unterernährter Kindern in den reichen USA.
Im Fall von Libanon funktioniert der Staat nicht mehr. Was tritt an seine Stelle?
Wenn Staaten zerfallen, übernehmen typischerweise nichtstaatliche Akteure diese Aufgaben: Sicherheit im Quartier, private Schulen, Ausbildung, Medizin. Da springt die Gesellschaft ein, was positive und negative Auswirkungen hat. So gibt es immerhin ein Angebot: Lieber eine Miliz im Quartier als keine Sicherheit. Besser private Schulen, für die man zahlen muss, als gar keine. Oft können sich aber nur Reiche diese Dienstleistungen leisten, und die Kontinuität ist fraglich.
Wie kann ein «failed state» auf den richtigen Weg gebracht werden?
Es gibt wenige richtige Strategien. Das zeigen etwa Somalia oder Afghanistan. Die internationale Gemeinschaft versucht oft, Institutionen wiederaufzubauen, doch die Staaten schaffen es nicht, von der Bevölkerung wieder Legitimität zu erhalten.
Es ist also auch eine Frage der Glaubwürdigkeit. Können Wahlen etwas bewirken?
Das war das Paradigma der 1990er-Jahre: Freie und faire Wahlen ergeben eine repräsentative Regierung mit Glaubwürdigkeit, die regieren und den Staat aufbauen kann. Doch die Wahlen waren oft nicht so fair, und repräsentative Regierungen können nicht unbedingt Dienstleistungen wie Schulen, Gesundheit, Strassen und Elektrizität garantieren.
Gibt es auch gelungene Beispiele?
Dazu gehört etwa die autonome Region Somaliland im Westen Somalias, die sich aus den Trümmern des Bürgerkriegs ohne internationale Hilfe wieder aufgebaut hat. Ein sogenannter Bottom-up-Staatsaufbauprozess. Zu denken ist auch an Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, wo nach massiver Zerstörung mit einem Regimewechsel mit internationaler Hilfe ein neuer Staat aufgebaut werden konnte.
Es gibt also Beispiele, die man mit Blick auf den Libanon beiziehen könnte?
Der Punkt ist, dass Staatsaufbau in einem politischen Kontext geschieht. Man kann nicht tabula rasa machen und bei null anfangen. Im Libanon gibt es klare Interessen, und die Kräfte und Mächte sind vor Ort. Auch wenn man einen ganz neuen Staat aufbauen möchte, werden die alten Probleme bald zurückkehren.
Gespräch führte Beat Soltermann.