Mit seiner «Hirntod-Diagnose» hat der französische Präsident Emmanuel Macron die Nato kritisiert wie kein westlicher Staatschef vor ihm. Das Prädikat «obsolet», mit dem einst der amerikanische Präsident Donald Trump die Nato versehen hatte, wirkt dagegen geradezu vornehm.
Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel kritisierte den «Rundumschlag» Macrons umgehend als «nicht nötig». Noch deutlicher widersprach, wenig überraschend, Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg: Die Nato, sagte er, sei «stark», mehr denn je.
Paradoxerweise haben beide recht
Militärisch steht die Nato, das amerikanisch-europäische Verteidigungsbündnis, besser da als auch schon. Zwar hatte sie mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 zunächst ihren Hauptfeind und damit ihre Daseinsberechtigung verloren. Die USA zogen Truppen aus Europa ab, 2013 den vorerst letzten Panzer.
Aber die neuen Spannungen mit dem postsowjetischen Russland und die Bedrohung durch Terrororganisationen wie Al-Kaida und dem Islamischen Staat führten in den vergangenen Jahren zur Wiederaufrüstung.
Amerikanische Panzer sind zurück in Europa. Und unter dem Druck Trumps geben auch die europäischen Nato-Staaten wieder mehr Geld für ihre Streitkräfte aus.
Die Nato ist also fit – und wirkt doch gelähmt
Denn die wahre Stärke eines Verteidigungsbündnisses misst sich nicht in Panzern, sondern in der Bereitschaft, diese Panzer auch einzusetzen. Oder genauer gesagt: am Glauben von Freund und Feind in den Beistandswillen der Bündnispartner.
Im Falle eines militärischen Angriffs gegen einen Mitgliedstaat verpflichtet der Nato-Vertrag die übrigen Mitglieder zum Beistand. Doch zum ersten Mal in der Geschichte in der Nato kommen Zweifel auf, ob die Beistandspflicht im Falle der Fälle auch wirklich wahrgenommen würde.
Würden die USA in den Krieg ziehen, um Polen oder Lettland vor einer russischen Aggression zu verteidigen? Stünden Deutschland und Luxemburg der Türkei bei, um sie vor einem syrischen Gegenangriff zu schützen? «Ich weiss es nicht», sagt Macron.
Macrons Vision hat keine Erfolgschancen
Die USA wollen kein Weltpolizist mehr sein, die ideologischen Gräben in der Nato sind tiefer denn je. Macron fordert daher, dass Europa – sprich die Europäische Union – sich künftig selbst um seine Verteidigung kümmern soll.
Doch Macrons Vision hat in absehbarer Zukunft keine Erfolgschancen. Vor allem die osteuropäischen Staaten aber auch Deutschland wollen die Nato unbedingt als verteidigungspolitischen Rahmen und die USA als Bündnispartner behalten.
Schlagkraft der USA unerreichbar
Den Streitkräften der EU-Staaten fehlt es noch lange an gemeinsamen Strukturen, an Waffen und Kriegserfahrung, um die Schlagkraft der USA auch nur annähernd kopieren zu können. Unvorstellbar, dass Frankreich seine Atomwaffen unter die Kontrolle der EU-Zentrale in Brüssel stellen könnte.
Kurzum, die Nato mag hirntot erscheinen – aber Macrons Gegenmodell ist bis auf Weiteres nicht lebensfähig.