Die Schweiz steht international in der Kritik. Im Fokus: die strikte Auslegung der Neutralität in Bezug auf Waffenlieferungen an die Ukraine. Nun schaltet sich der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, in die Debatte ein. Er gilt als Freund der Schweiz und Brückenbauer zwischen der Schweiz und Europa.
Im Interview mit der Sendung «Rundschau» schlägt er einen überraschend mahnenden Ton an. Die Schweiz müsse zur Kenntnis nehmen, dass die globale Lage sich verändert habe und ihre Grundhaltung immer wieder überprüfen. In anderen Konflikten könne man neutral sein, doch «in diesem Konflikt, wo es so eindeutig ist, wer der Aggressor und wer sein Opfer ist, da muss man sich schon anders aufstellen».
Die Schweiz habe sich bei den Sanktionen klar positioniert, in diese Richtung müsse sie weiterdenken, fordert Kretschmann.
Auenland-Vergleich
Kretschmann vergleicht die Schweiz in Anlehnung an die Fantasy-Saga «Herr der Ringe», mit der Hobbits-Heimat Auenland. Er sagt: «Auch das Auenland wurde nicht von den Hobbits allein gegen die Orks verteidigt, sondern auch von vielen Mächten drumherum.»
Die Schweiz sei umgeben von Nato- und EU-Staaten. «Das ist der Raum, in dem sie überhaupt so etwas wie ihre Neutralität entfalten kann.»
Lob statt Schelte
Die Schweiz in der Kritik? Davon ist bei offiziellen Auftritten des Bundesrats wenig zu spüren. Der Schweiz scheint viel Wohlwollen entgegenzukommen. So schwärmt etwa Aussenminister Ignazio Cassis nach seinem ersten Tag als Vorsitzender des UNO-Sicherheitsrats: «Die Schweiz übernimmt eine grosse Verantwortung in einer Zeit, in der die Welt verrückt ist.» Dafür bekomme sie viel Anerkennung in der Weltgemeinschaft.
Auch auf Auslandsreisen hörten Schweizer Regierungsvertreter und -vertreterinnen kaum Kritik. Als Ignazio Cassis im April in Rom zu Gast war, habe der italienische Aussenminister die Schweiz für ihre Neutralität gelobt, erzählt die Schweizer Botschafterin Monika Schmutz Kirgöz, die beim Treffen dabei gewesen ist.
Der Aussenminister habe der Schweiz einen «richtigen Blumenstrauss präsentiert» und gesagt, die Schweiz und ihre Neutralität seien wichtig. Monika Schmutz Kirgöz sagt gegenüber der «Rundschau», die Beziehung zwischen den beiden Ländern sei ausgezeichnet.
Ähnlich klingt es Mitte April nach dem Treffen von Viola Amherd mit dem britischen Verteidigungsminister Ben Wallace in London. Der Brite habe die Schweiz für ihr breites Engagement in der Ukraine gelobt, sagt Amherd nach dem Treffen zu Journalisten.
Diplomatische Freundlichkeit
Der ehemalige Schweizer Botschafter Thomas Borer, der heute als Lobbyist und Berater agiert und eine Consulting-Firma betreibt, warnt davor, den freundlichen Worten zu trauen. Wenn Staaten gemeinsame Interessen teilten, würden sie sich nicht öffentlich kritisieren. «Klartext redet man, wenn die Journalisten und die Öffentlichkeit draussen sind, im Verhandlungszimmer.» Dort töne es ganz sicher anders.
Borer ist überzeugt, dass der Ärger über die Schweiz weit verbreitet ist. Das entnehme er persönlichen Gesprächen mit Exponentinnen und Exponenten aus den USA oder Deutschland. Etwa von der Aussenministerin Annalena Baerbock (Grüne) oder der Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses im Bundestag, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (deutsche FDP). «Die haben alle auf mich eingeschimpft. Sie sagten, Thomas, wir verstehen das nicht.» Die Kritik an der Schweiz ziehe sich, gerade in Deutschland, querbeet durch alle Parteien.