Wie soll die Medizin mit Kindern und Jugendlichen umgehen, die sich mit ihrem biologischen Geschlecht unwohl fühlen? Eine einfache Antwort auf die kontroverse Frage hat die renommierte britische Kinderärztin Hilary Cass nicht gefunden. Sie verfasste ihren Bericht über Transgender-Medizin in Grossbritannien im Auftrag des staatlichen Gesundheitswesens NHS.
Ein Satz sticht im Bericht ins Auge: Das britische Gesundheitsweisen habe viele dieser Jugendlichen im Stich gelassen. Zu schnell seien Medikamente und Hormone verschrieben worden. Vielen Betroffenen hätte eine angemessene psychologische Betreuung allenfalls mehr geholfen, sagt die Medizinerin.
Niemand hatte die Absicht, den Kindern zu schaden.
Aber viele Ärztinnen und Ärzte hätten unter grossem Druck gestanden. «Jeder, mit dem ich gesprochen habe, ist fest überzeugt, das Richtige zu tun. Niemand hatte die Absicht, den Kindern zu schaden.»
Hormone nicht immer geeignet
Die Kinderärztin kommt zum Schluss, dass die Behandlung mit Pubertätsblockern nicht für alle Betroffenen geeignet war. «Aus medizinischer Sicht ist es seltsam, junge Menschen mit Medikamenten und Hormonen zu behandeln, die ihr Leben nachhaltig verändern, ohne die Langzeitfolgen zu kennen.»
Eine langfristige Begleitung der Patientinnen und Patienten fehlte weitgehend, ebenso eine Forschung, um besser zu verstehen, was mit jungen Menschen passiert, die Pubertätsblocker oder Hormone einnehmen. «Man müsste ebenso jene Menschen wissenschaftlich begleiten, die auf Hormone verzichten. Und wir müssen herausfinden, welche psychologische Hilfe die Jugendlichen auf ihrem Weg benötigen», so Cass.
Polarisierte Debatte um Transgender
Cass betont, wie heikel es selbst für medizinische Fachleute sei, sich in der hoch polarisierten Transgender-Debatte zu exponieren. Kritische Fragen seien oft unerwünscht. Die Kinderärztin stellt sie in ihrem Bericht trotzdem.
Das Leiden der Jugendlichen verunsicherte viele Ärztinnen und Ärzte – und machte sie ratlos.
Es gebe bis heute keine schlüssige Erklärung, weshalb immer mehr junge Menschen, insbesondere Mädchen, eine transsexuelle Identität hätten. Auslöser seien biologische, psychologische und soziale Faktoren. Auch der Einfluss von sozialen Medien oder Online-Pornografie sei zu beachten.
Cass’ wichtigste Empfehlung ist, die Jugendlichen ernst zu nehmen – sie aber mit einem ganzheitlichen Blick zu begleiten. In den vergangenen Jahren habe man manche Jugendliche zu rasch an die Transgender-Medizin weitergereicht – «aus Überforderung», so die Ärztin. «Das Leiden der Jugendlichen verunsicherte viele Ärztinnen und Ärzte – und machte sie ratlos.»
Abklärungen zu wenig detailliert
Oft hätten auch das Personal und die Mittel gefehlt, um seriös abzuklären, ob es allenfalls noch andere Ursachen gibt, weshalb Jugendliche an Depressionen und Angstzuständen leiden. «Das Gesundheitssystem war mit der Zahl und Komplexität der Fälle schlicht überfordert», folgert Cass.
In Grossbritannien wird der Untersuchungsbericht in ersten Reaktionen von allen Seiten begrüsst. Trotzdem ist absehbar, dass das Thema gerade in einem Wahljahr weiterhin politisch ausgeschlachtet wird.
Hilary Cass fordert deshalb ein Ende der aufgeheizten, ideologischen Debatte. Denn zwischen den polarisierten Fronten stehen junge Menschen und ihre Eltern mit realen Nöten.