Das Urteil: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg hat die Beschwerde des seit zwei Jahren in der Türkei inhaftierten Oppositionspolitikers Selahattin Demirtas gutgeheissen und verlangt dessen Freilassung. «Seine provisorische Inhaftierung ist ein unrechtmässiger Versuch, ihn an seinem Recht, sein politisches Mandat auszuüben, zu hindern», so die Erklärung des Gerichts. Der ehemalige Co-Vorsitzende der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP sah sich aus politischen Gründen verfolgt und hatte Beschwerde gegen seine Untersuchungshaft eingelegt.
Die Reaktion: Demirtas müsse nun «sofort aus der Haft entlassen werden», so sein Anwalt, Mahsuni Karaman. Der Prozess gegen seinen Mandanten werde danach zwar weitergehen, aber seine Entlassung sei «dringend und unbedingt erforderlich». Die Türkei müsse den EGMR-Entscheid umsetzen, forderte Karaman weiter. Ankara ist allerdings nicht gezwungen, dies zu tun. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Beide Seiten können es weiterziehen.
Demirtas muss sofort aus der Haft entlassen werden.
Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan selbst bezeichnete das Strassburger Urteil als nicht bindend. «Die Urteile des EGMR sind nicht bindend für uns. Wir machen einen Gegenzug und beenden die Sache», sagte er nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu. Was er damit meinte, ist unklar.
Die Vorgeschichte: Bei den türkischen Parlamentswahlen im Jahr 2015 nahmen Demirtas und seine Partei, die HDP, die Zehn-Prozent-Hürde. Sie verwehrte Präsident Erdogan damit die absolute Mehrheit. Der charismatische Politiker galt als grosse Hoffnung vieler Türken. Im Wahlkampf hatte er die HDP als einzige Partei porträtiert, die Erdogans «Diktatur» stoppen könne.
Der 45-jährige Jurist wurde der Regierung mehr und mehr ein Dorn im Auge. Im November 2015 überlebte Demirtas einen Anschlag. Es wurde auf sein Auto geschossen. Im Mai 2016 liess Erdogan die Immunität zahlreicher HDP-Abgeordneter aufheben. Ein halbes Jahr später wurde Demirtas wegen Terrorvorwürfen verhaftet – obwohl er sich stets von der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK distanziert hatte. Seit zwei Jahren sitzt er im Hochsicherheitsgefängnis in Edirne, von wo aus er seinen Prozess verfolgt. Dennoch trat er bei den Präsidentschaftswahlen letzten Juni aus dem Gefängnis heraus gegen Erdogan an. Er erreichte den dritten Platz.