Studenten, die unliebsame Gastrednerinnen niederschreien, Aktivistinnen die Vorlesungen stören: Der Kulturkampf, der seit Jahren an US-Universitäten tobt, ist längst nach Europa übergeschwappt. Das seien keine bedauerlichen Einzelfälle, sagt die deutsche Ethnologin Susanne Schröter in ihrem neusten Buch und widerspricht damit dem deutschen Literaturwissenschaftler Adrian Daub klar.
SRF News: Wer ist diese woke Linke, die nach Ihrer Ansicht zur Bedrohung für Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft geworden ist?
Susanne Schröter: Es sind Ideologen. Sie verbindet eine einheitliche Vorstellung, wie die Welt beschaffen ist, in welche Richtung sie sich entwickeln soll und wer Freund und wer Feind ist. Dazu zählen Professorinnen und Professoren, wissenschaftliche Mitarbeitende sowie Studentinnen und Aktivisten ausserhalb der Universität. Das Besondere daran: Es geht nicht von den Studierenden aus.
Dokumentiert ist in Deutschland die Doktorandin Marie-Luise Vollbrecht, die wegen der Aussage, es gebe nur zwei biologische Geschlechter, mit einem Shitstorm überzogen wurde. Kein Einzelfall?
Nein. Im Netzwerk Wissenschaftsfreiheit erhalten wir viele Anfragen. Die meisten sind vertraulich, weil gerade junge Betroffene mit Recht um ihre Karriere fürchten. Wir gehen von einer riesigen Dunkelziffer aus. Ausgehend von solchen Einzelfällen, aber auch von Ermahnungen und Mobbing auf unterschwelliger Ebene, entwickelt sich eine Kultur der Ängstlichkeit. Man bemüht sich, in der Wissenschaft nichts «Falsches» zu sagen, und fasst kein Forschungsthema mehr an, das Widerspruch der woken Linken hervorrufen könnte.
Gibt es Erhebungen, wie häufig solche Fälle an Universitäten vorkommen?
Es gibt keine empirischen Untersuchungen, doch das wäre dringend notwendig. Befragungen bei Hochschullehrkräften zeigen aber auf, wer sich wegen der woken Welle nicht mehr frei äussern kann, sich eingeschränkt fühlt und sich selbst einschränkt. Diese Zahlen steigen seit Jahren. Vor allem in den Geisteswissenschaften, aber mittlerweile auch in den Natur- und Wirtschaftswissenschaften und sogar in der Medizin. 30 bis 40 Prozent der Befragten sagen, dass sie nicht mehr jedes Thema angehen würden.
Aktivistinnen und Studenten störten schon in den 1960er- und 1970er-Jahren Vorlesungen. Ist das Phänomen also gar nicht neu?
Es gibt in der Tat sehr viele Ähnlichkeiten. Insbesondere im Hinblick auf den absoluten Wahrheitsanspruch, den woke Akteure heute vortragen. Ebenso bezüglich der Aggressivität. Doch damals waren es fast ausschliesslich Studentinnen und Studenten. Heute sind die Professoren selbst zum Teil federführend dabei.
Können die Universitäten ihrem Forschungsauftrag nicht mehr gerecht werden?
Die freie Forschung ist in der Tat gefährdet. Wir müssen anschauen, wo dieser woke Forschungsfuror bereits Lücken hinterliess. Beispielsweise im Bereich des sogenannten legalistischen Islamismus, wo es in Deutschland nahezu nichts mehr gibt, weil sich junge Forschende nicht mehr an diesen wichtigen multikulturellen Bereich heranwagen. Ganz im Gegensatz zum gewalttätigen Islamismus, wo es durchaus Forschung gibt. So gibt es zum Islamismus keinen einzigen Lehrstuhl. Ähnlich ist es in der kritischen Migrationsforschung. Auch bei für Arbeiten beispielsweise zu Gewalt im Namen der Ehre findet sich niemand.
Das Gespräch führte Matthias Kündig.