Im Wahljahr 2023 wird ein Thema, das sich bislang vornehmlich in den Seiten des Feuilletons abgespielt hat, auch die Stammtische im Land bewegen. Davon ist zumindest die Basis der grössten Partei des Landes überzeugt. Die Delegierten der SVP haben sich im neuen Parteiprogramm dem Kampf gegen Wokeness und Cancel Culture verschrieben. Doch was hat es mit diesen Phänomenen auf sich, und wie stark eignen sie sich als Wahlkampfthemen?
Seit rund zehn Jahren bewegt das Thema in den USA die Gemüter. An Universitäten mehrten sich damals die Rufe, Werke problematischer Herkunft wegen der Vergehen ihrer Autoren zu boykottieren. Es kam zu teils spektakulären Protesten mit zerstörten Denkmälern. Von Social-Media-Influencern über die Bestseller-Autorin J.K. Rowling hin zu gleich mehreren bekannten Komikern: Die Liste «Betroffener» ist lang.
Von den Universitäten schwappte das Thema in die nationale Politik über. Eine der bekanntesten Stimmen der amerikanischen Linken, Alexandria Ocasio-Cortez, spricht im Interview mit dem «New Yorker» von rechten Kampfbegriffen. Ähnlich sieht dies der deutsch-amerikanische Sprachwissenschaftler Adrian Daub, der ein viel beachtetes Buch zum Thema geschrieben hat. Es handle sich bei der Cancel Culture um einen politischen Diskurs, der seit Jahrzehnten von einer gut finanzierten Rechten vorangetrieben werde.
Die SVP geht ein Wagnis ein, mit Gender und Woke in den Wahlkampf zu ziehen.
Wird sich das Thema also auch in der Schweiz durchsetzen? Gemäss Politanalyst Mark Balsiger sieht es – zurzeit zumindest – nicht so aus. Das Sorgenbarometer der CS zeige, dass das Thema die Schweizerinnen und Schweizer derzeit nicht gross beschäftige. Themen wie der Klimawandel, die Altersvorsorge oder die Beziehung zu Europa seien wichtiger. «Die SVP geht also ein Wagnis ein, mit Gender und Woke in den Wahlkampf zu ziehen», so Balsiger.
Interessant ist für den Kampagnenexperten, dass in rot-grün dominierten Städten zwar eine Affinität für die Anliegen des Wokeismus vorhanden sei, das Thema aber nicht aktiv bewirtschaftet werde.
Ein eher einseitig geführter Diskurs
Während aus der politischen Linken also wenig zu hören ist von Cancel Culture und Wokeness, fürchten sich ihre Kritiker auf bürgerlicher Seite umso mehr vor Denkverboten oder einer negativen Schweigespirale.
Für Aufsehen sorgte diesbezüglich vor zwei Jahren der deutsche Politikwissenschaftler Richard Traunmüller mit den Ergebnissen einer Befragung von Studentinnen und Studenten. Darin zeigte er auf, dass eine Mehrheit der Befragten Verboten im Sinne der Cancel Culture positiv gegenüber stehen. Für Traunmüller ist deshalb klar, dass es sich um ein politisch fassbares Phänomen handle.
Bei der Kritik, die auf die Veröffentlichung der Studie folgte, zeigte sich ein deutliches Rechts-links-Schema. Ebendieses findet sich auch in der Forschung Traunmüllers. Wie die Menschen auf den Begriff der Cancel Culture reagieren, verlaufe entlang eines Gradienten. «Auf bürgerlicher Seite ist die Empörung grösser. Wer weiter links steht, tendiert dazu, in der Cancel Culture kein Problem zu sehen», so der Politikwissenschaftler gegenüber SRF.
Genau diese Leidenschaft, die das Thema bei einigen auslöse, könnte ihm längerfristig denn auch zum Erfolg verhelfen, glaubt Mark Balsiger. «Themen wie Gender, Woke und kulturelle Aneignung sind hochemotional und werden uns eine lange Zeit beschäftigen. Eine Lösung in diesem Konflikt ist nämlich noch nicht in Sicht.»