Die Stadt Afrin im Norden Syriens wurde von der Türkei und von verbündeten syrischen Rebellen erobert. Gestern rollten Panzer mit türkischen Fahnen durch das Stadtzentrum. Und auch von Plünderungen ist die Rede. Laut Ruth Bossart, SRF-Korrespondentin in der Türkei, ist die Lage unübersichtlich.
SRF News: Was können Sie über die Situation in Afrin sagen?
Ruth Bossart: Was die Plünderungen angeht, glaube ich, dass die Berichte sehr glaubwürdig sind. In den sozialen Medien, insbesondere auf Twitter, sieht man viele Bilder, auf denen die FSA-Milizen Waren abtransportieren – etwa Büchsen aus einem Lebensmittelgeschäft oder Motorräder auf einem Anhänger, der von einem Traktor gezogen wird. Auch Fernseher und Sofas werden aus Wohnungen geschafft. In diesem Zusammenhang muss man auch erwähnen, dass diese Milizionäre Söldner sind, also gekaufte Kämpfer mit einem islamistischen Hintergrund. Sie halten enge Verbindungen zur Al Kaida. Für sie ist Kämpfen ein Job, und wenn es etwas dazuzuverdienen gibt, greifen sie zu.
Mehr als 150'000 Menschen sind in den letzten Tagen aus Afrin geflohen, manche Quellen sprechen sogar von 200'000. Die Stadt stand unter türkischem Dauerbeschuss. Wie gefährlich leben jene, die noch dort sind?
In Afrin sollen bis zu 300'000 Menschen gelebt haben. Das heisst, dass nun klar mehr als die Hälfte der Einwohner geflohen sind. Die Zahl der Flüchtlinge ist vielleicht sogar noch höher als 200'000. Die Lage ist recht unübersichtlich. Auch wohin die Menschen geflohen sind, weiss man nicht mit Sicherheit. Einige sollen sich in Gebieten aufhalten, die noch von den Kurden kontrolliert werden. Andere sollen sich auf das Territorium des Assad-Regimes begeben haben.
Eine Umsiedlung in das von Kurden bewohnte Gebiet wäre nichts anderes als eine ethnische Säuberung.
Wie gefährlich es für die Menschen ist, die in Afrin geblieben sind, ist schwer einzuschätzen. Sicher werden sie nun nicht mehr aus der Luft angegriffen. Doch die Milizen sind unberechenbar und die Verachtung gegenüber den Kurden in der türkischen Armee ist gross; die Freude an Demütigung ebenfalls. Das hat man gestern gesehen, als die einmarschierenden Truppen als eine der ersten Handlungen eine für die Kurden wichtige Statue mit einem Bulldozer zerstörten. Und dies drei Tage vor dem kurdischen Neujahrsfest Newroz, bei dem die Statue eine zentrale Rolle spielt.
Mit der Eroberung Afrins hat die türkische Regierung ein wichtiges Ziel erreicht. Was sind die langfristigen Pläne der Türkei in der Region?
Ankara wird es mit Sicherheit nicht mit Afrin bewenden lassen. Das haben hochrangige Politiker, darunter auch Präsident Erdogan, schon mehr oder weniger deutlich angetönt. Die türkische Armee wird darum bestimmt weiter nach Osten, in Richtung Euphrat, vordringen. Im Fokus hat man insbesondere die Stadt Manbidsch; eine Stadt, die vom IS befreit worden ist und nun unter kurdischer Verwaltung steht. Es gibt auch Beobachter, die befürchten, dass die Türkei entlang ihrer ganzen Grenze eine kurdenfreie Zone anstrebt und dort eine Art Pufferzone einrichten will, in der sie das Sagen hat. Erdogan hat ja schon mehrfach gesagt, dass er einen Teil der rund drei Millionen syrischen Flüchtlinge aus der Türkei in diesen, wie er sagt, «befreiten Gebieten» ansiedeln will. Also auch in Gebieten wie Afrin oder Dscharablus. Dort hat man bereits mit diesen den Umsiedlungen begonnen.
Die Türkei will also Flüchtlinge, die aus Syrien in die Türkei geflohen sind, nach Afrin umsiedeln. Was bezweckt die Regierung damit?
Nicht nur nach Afrin, sondern in alle Gebiete, die sie von den Kurden – wie sie sagt – «befreit». Die Türkei ist das Land, das die meisten Flüchtlinge aus dem Syrienkrieg aufgenommen hat. Rund drei Millionen Menschen, das ist natürlich eine recht grosse Belastung, nicht nur finanziell, sondern auch innenpolitisch. Es kommt in letzter Zeit nämlich hier in der Türkei immer wieder zu Zusammenstössen zwischen Vertriebenen und Einheimischen, die vermuten, dass die Flüchtlinge besser behandelt werden als sie selbst. Um diese Problematik zu entschärfen plant Erdogan, Flüchtlinge zu Hunderttausenden in diese Pufferzonen umzusiedeln. Diese Menschen sind aber zum grossen Teil Araber, und eine Umsiedlung in dieses von Kurden bewohnte Gebiet wäre darum nichts anderes als eine ethnische Säuberung. Das wäre aber für die türkische Regierung ein willkommener Effekt.
Das Gespräch führte Claudia Weber.