Die israelische Armee rückt im Süden des Gazastreifens weiter vor, die Situation für die Zivilbevölkerung wird immer schwieriger und unerträglicher. Immer noch aktiv in dem Palästinensergebiet ist unter anderem die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen, Médecins sans Frontières (MSF). Ihr Koordinator vor Ort, Christophe Garnier, schildert die Lage.
SRF News: Wie ist die Lage im Gazastreifen?
Christophe Garnier: Wir haben Chan Yunis verlassen und sind jetzt in Mawasi, dort ist es sicherer. Seit dem Ende der Waffenruhe entwickelt sich die Situation hier sehr, sehr schnell. Heute konnten wir zum Beispiel nicht mehr zum Al-Nasser-Spital im Süden des Gazastreifens gelangen. Offenbar sind Bodentruppen und Panzer vorgerückt und umstellen das Spital. Wir wissen nicht, was als Nächstes geschieht.
Woran fehlt es am meisten?
Medizinisches Personal gibt es, denn viele, die vorher im Norden gearbeitet haben, sind jetzt im Süden. Schwierig ist der Zugang zu den Spitälern. Je nachdem, wo jemand wohnt, gibt es keine Transportmöglichkeit, weil es an Treibstoff fehlt. Auch sind die Zugangswege nicht sicher. Die Spitäler sind völlig überfüllt – mit Patienten, aber auch mit Menschen, die dort Zuflucht suchen. Die Mitarbeiter in den Spitälern arbeiten rund um die Uhr, weil es so viel zu tun gibt.
Hier im Süden fehlen Strukturen, um all die aus dem Norden geflüchteten Menschen aufzunehmen.
Der Nachschub an medizinischen Gütern ist natürlich ein Problem, aber wir haben noch Vorräte. Auf diese können wir jedoch nicht immer zugreifen, weil wir uns aus Sicherheitsgründen nicht mehr frei bewegen können. Das Hauptproblem ist, dass hier im Süden Strukturen fehlen, um all die aus dem Norden geflüchteten Menschen aufzunehmen. Überall entstehen behelfsmässige Lager in Gebieten, die als sicher gelten. Auch sind die Spitäler und die hygienische Infrastruktur in keiner Weise auf eine Bevölkerung ausgelegt, die sich innert einer Woche verdoppelt oder verdreifacht hat.
Wie sind die hygienischen Zustände?
Während der Waffenruhe schätzte das UNRWA, dass rund eine Million Menschen in Schulen untergebracht sind. Darauf sind diese Schulen überhaupt nicht vorbereitet. Ähnlich ist die Situation in den Spitälern.
Das Risiko für den Ausbruch einer Epidemie ist sehr hoch.
In den Notlagern gibt es keinen Zugang zu Wasser oder Toiletten. Die Menschen leben dort dicht gedrängt. Das Risiko für den Ausbruch einer Epidemie ist sehr hoch. Das gilt etwa für Cholera, aber nicht nur. Wenn es zu einem Ausbruch kommt, verbreitet sich die Krankheit – egal, welche – rasend schnell.
Mit welchen anderen Krisengebieten ist die Lage im Gazastreifen vergleichbar?
Gaza ist ein Gebiet von gerade mal 365 Quadratkilometern. Zuerst konzentrierten sich die Kämpfe auf den Norden, jetzt wird auch im Süden gekämpft. Eine solche Intensität habe ich noch nirgends in einem Konflikt erlebt. Und ich war in vielen Ländern, in denen Krieg herrschte. Hier wird permanent, rund um die Uhr, gekämpft.
Die Intensität des Konflikts ist gewaltig – ständig hört man die Bomben.
Seit dem Ende der Waffenruhe wird ständig und ohne Unterlass bombardiert. Auch wenn es ab und zu ein paar Stunden Pause gibt: Es hört nie auf, sei es Beschuss durch schwere Artillerie, Operationen am Boden oder aus der Luft. Die Intensität des Konflikts ist gewaltig; ganz egal, wo man ist in Gaza, ständig hört man die Bomben.
Mehrere Mitarbeiter von MSF kamen in den letzten Wochen ums Leben. Wie beeinflusst das Ihre Überlegungen?
Médecins sans Frontières ist im Gazastreifen seit 1989 aktiv, wir haben palästinensische Angestellte. Ob wir wollen oder nicht: Wir sind da involviert, was die Folgen dieses Konflikts angeht. Als Organisation sind wir verantwortlich für unsere Mitarbeiter, die teilweise seit 20 oder 25 Jahren für uns arbeiten. Wir tun für sie, was wir können, etwa, um sie sicher unterzubringen. Und wir versuchen, unsere Arbeit fortzuführen.
Es scheint, dass alles, was hier geschieht, mit dem Segen der internationalen Gemeinschaft passiert.
Aber ja: Mitarbeiter von Médecins sans Frontières haben ihr Leben verloren – wie solche anderer Hilfsorganisationen auch. Ich habe noch nie erlebt, dass in einem Konflikt in so kurzer Zeit so viele Mitarbeitende von Hilfsorganisationen getötet wurden. Man hat den Eindruck, dass kein Ort mehr respektiert wird – egal, ob das ein Spital oder eine Hilfsorganisation betrifft. Und es scheint, dass alles, was hier geschieht, in völliger Straflosigkeit passiert. Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen: Es passiert mit dem Segen der internationalen Gemeinschaft.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.