In mehreren tunesischen Städten kommt es am Montagabend zu schweren Ausschreitungen. In Tunis liefern sich Hunderte Jugendliche Strassenschlachten mit der Polizei. Sie werfen Steine und Benzinbomben. Die Polizei setzt Tränengas und Wasserwerfer ein.
Ein Sprecher des Innenministeriums gab bekannt, dass bereits am Sonntag bei Protesten 632 Menschen festgenommen worden seien.
Sarah Mersch, freie Journalistin in Tunis, kennt die Lage im nordafrikanischen Land – und auch die sozialen Brennpunkte wie die Armenviertel in Tunis, in denen die Proteste aufflammten. «Sie sind Ausdruck der Verzweiflung und der Wut der jungen Leute, die keine Perspektive sehen», sagt Mersch.
Corona als Brandbeschleuniger
Schon vor der Pandemie war Tunesien in einer schwierigen wirtschaftlichen Situation. Seit März 2019 kommen zahlreiche Beschränkungen dazu, die das Wirtschaftsleben belasten. Getroffen haben diese insbesondere diejenigen, die ohnehin in prekären Verhältnissen leben.
Märkte wurden wiederholt geschlossen, wodurch Strassenhändler nicht mehr arbeiten konnten und Tagelöhner ihr Einkommen verloren. «Wenn gleichzeitig die grossen Supermarktketten offen bleiben, fühlen sich viele ungleich behandelt», sagt die deutsche Journalistin. Die angestaute Wut entlädt sich nun auf den Strassen.
Ausgerechnet am Jahrestag der Revolution wurde ein landesweiter Lockdown verhängt. Für viele Tunesierinnen und Tunesiern sei dies kein Zufall, so Mersch. Denn, so die verbreitete Vermutung: Die Ausgangssperre wurde auch verhängt, um neuerliche Proteste und Demonstrationen zu verhindern.
Für Mersch sind die Massnahmen zwar gerechtfertigt. In Tunesien schnellte die Zahl der Corona-Ansteckungen zuletzt in die Höhe. Der wissenschaftliche Beirat der Regierung schlug gar einen mehrwöchigen Lockdown vor – die Behörden entschieden sich lediglich für vier Tage. «Der Zeitpunkt hat aber Fragen aufgeworfen und war zumindest ungeschickt gewählt.»
Aufruhr in Coronazeiten
Die Sicherheitskräfte gehen massiv gegen die Demonstranten vor. Die Menschenrechtsgruppe Amnesty International rief zur Mässigung auf und verwies auf Videos, auf denen Polizisten auf festgenommene Demonstranten einschlagen.
«Man hat den Eindruck, dass die Regierung Angst vor diesen Protesten», sagt Mersch. Die Repression werde in der Bevölkerung auch als Ausdruck der Hilflosigkeit der Politik gewertet, den jungen Menschen eine Perspektive bieten zu können.
Keine «Rendite» der Revolution
Vor zehn Jahren war Tunesien eine Diktatur – diese endete mit der Flucht des Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali nach Saudi-Arabien. Heute hat Tunesien eine demokratisch gewählte Regierung. Die Ausgangslage sei eine andere, anerkennt die Journalistin. Doch für viele Menschen sei die «Rendite» der Revolution ausgeblieben.
Meinungsfreiheit, freie Wahlen, Rechtsstaat – in all diesen Bereichen gab es deutliche Fortschritte. «Die wirtschaftliche Situation hat sich aber für die meisten Tunesierinnen und Tunesier im Alltag kaum verbessert.»
Solange wechselnde Regierungen keine Antworten darauf fänden und auch die Korruption weiter grassiere, bleibe das Vertrauen in die Demokratie tief, schliesst die Journalistin. Und die Gefahr eines neuerlichen Aufruhrs latent.