Nachdenklich schiebt Ali Kahuli seine Mütze in den Nacken. Der arbeitslose Lehrer sitzt mit Freunden in einem Café gleich neben dem Denkmal, das an den unglücklichen Gemüsehändler Mohammad Bouazizi erinnert. Genau hier hatte sich Bouazizi, der eigentlich Tariq hiess, am 17. Dezember 2010 selbst in Brand gesetzt. Aus Verzweiflung, aus Protest, aus Hoffnungslosigkeit.
Es war der Funke, den Mohammad Bouazizi – oder Tariq – an jenem unglückseligen Freitagabend an sich selbst entzündete, der sich schnell zu einem Flächenbrand auswuchs. Ein Flächenbrand, der durch die arabischen Hauptstädte raste und Langzeitherrscher wie Tunesiens Ben Ali, Ägyptens Mubarak, Jemens Ali Abdullah Saleh und Libyens Gaddafi hinwegfegte – und der dann doch im syrischen Bürgerkrieg, im ägyptischen Militärputsch oder im jemenitischen und libyschen Chaos endete.
Und auch ein Flächenbrand, der sich in einer zweiten Welle längst wieder Bahn bricht durch einen arabischen Raum, der in seinem verknöcherten Stillstand auf den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Abgrund zurast. Zwischen «Repression und Rebellion», wie mein Freund Karim El-Gawhary sein jüngstes Buch betitelt hat.
Was sich verändert hat seit jenem 17. Dezember? Nichts!
Zehn Jahre, nachdem diese Epochenschwelle an genau diesem Platz in der tunesischen Kleinstadt Sidi Bouzid ihren Anfang genommen hat, sitzen Ali Kahuli und seine Freunde also in ihrem Lieblingscafé neben dem übergross in Stein gemeisselten Verkaufswagen von Bouazizi und schauen den Kindern zu, die auf dem Mahnmal herumklettern.
«Was sich verändert hat seit jenem 17. Dezember? Nichts!» Ali Kahuli zuckt mit den Schultern. «Die Politiker haben uns versprochen, sie würden Fabriken bauen, Arbeitsplätze schaffen. Aber natürlich hat niemand seine Versprechen gehalten.» Die wirtschaftliche Krise droht in Tunesien alle Errungenschaften der Revolution aufzufressen.
Denn die tunesische Befreiungsbewegung war die mit Abstand erfolgreichste des gesamten sogenannten Arabischen Frühlings. Arshid Adib-Moghaddam findet gar, die Erfolge der tunesischen Revolution würden viel zu wenig betont. Der Professor an der «London School of Oriental and African Studies» sagt, Tunesien habe sich vor zehn Jahren nicht nur seines Langzeit-Präsidenten-Diktators entledigt, sondern «nach dem Sturz von Ben Ali ein politisches System errichtet, das nach allen Standards als demokratisch bezeichnet werden kann und das sogar fähig ist, sich selbst zu reformieren.»
Pandemie verstärkt Probleme
Doch davon können sich Ali Kahuli und seine Freunde nichts kaufen. «Hier in Sidi Bouzid haben sie nach der Revolution eine Fabrik gebaut. Eine einzige, und die hatten sie schon lange vor der Revolution geplant. Jetzt arbeiten dort 300 Leute, aber sonst: keine Jobs, keine Ausbildung, nur Schulden.» Sidi Bouzid, der Ort, an dem der Arabische Frühling begann, sei heute ein vergessener Ort, sagt Ali Kahuli, und seine Freunde nicken.
Natürlich kann Tunesien, dieses wunderbare Land, das so von Tourismus und ausländischen Besuchern lebt, anführen, die Corona-Pandemie habe viel zu der wirtschaftlichen Not beigetragen. Doch Covid hat vielmehr eine weitere Lüge der Politik ans Licht gezerrt. «Sie haben uns versprochen, ins Gesundheitswesen zu investieren. Als Covid kam, haben wir entdeckt, dass sie gar nichts getan haben.»
Kahulis Freund Mondher Chaibi ist wütend. Chaibi ist Musiker, sein letzter Auftritt ist lange her. «Wir hatten grosse Hoffnungen, aber nichts geschah. Wir blieben dort stehen, wo wir waren. Und nicht nur das: Wir wurden älter, haben wieder zehn Jahre verloren, was uns frustriert und traurig macht.»
Hinzu kommt, dass die Revolution in Tunesien Bruchlinien zutage gefördert hat, die zuvor unterdrückt worden waren. «Wir haben für mehr Freiheit und Arbeitsplätze gekämpft. Doch die Gegner der Revolution haben diesen Kampf zu einem Konflikt zwischen Säkularen und Islamisten gemacht.» Ali Kahuli schüttelt den Kopf. «Wir Tunesier sind zwar Muslime, ja. Aber wir haben für Freiheit, Brot und Würde gekämpft.» Und nicht für die Scharia.
Islamistische Parteien kaperten die Revolutionen
Es war der grosse Fehlschluss, den wir alle gezogen haben in jenen Tagen. Ich erinnere mich bestens an jenen Moment in Kairo, als Hosni Mubarak zurücktrat, der Pharao, der Ägypten 30 Jahre lang regiert hatte – unter dem Druck des Tahrir-Platzes oder vielmehr des Militärrats, der seine Pfründe gefährdet sah und den Präsidenten opferte. Ich stand neben meinem ORF-Kollegen Karim El-Gawhary, wir schauten uns ungläubig an. «Und weisst du, was das Beste ist?», fragte er. «Jetzt haben die Islamisten keinen Vorwand mehr.» Was für eine naive Vorstellung, die wir damals hatten.
Denn sowohl in Tunesien als auch in Ägypten, in Libyen und in Syrien versuchten die islamistischen Parteien sofort, die Revolutionen zu kapern, und sie waren erfolgreich damit. In Libyen und Syrien unterwanderten islamistische und mehr und mehr auch dschihadistische Kräfte die Aufstände und gaben den Revisionisten damit willkommene Argumente, die Konflikte mit immer mehr Waffengewalt zu führen.
In Ägypten wurde der Muslimbruder Mohammad Mursi zum Präsidenten gewählt. Er lieferte mit seiner inkompetenten Politik der allmächtigen Armee nach nur einem Jahr den Vorwand zu einem Militärcoup, der von den durch Mursi aufgeschreckten Massen auf genau jenem Tahrir-Platz bejubelt wurde, auf dem die Ägypter drei Jahre zuvor die Diktatur in die Wüste geschickt hatten.
Heute hat in Syrien Machthaber Assad den Bürgerkrieg gewonnen, ohne den Frieden gewinnen zu können. In Libyen und Jemen tobt ein die Staaten zersetzender Krieg, und in Ägypten unterdrückt die einem Kraken gleiche Armee die letzten Reste ziviler Freiheit.
Wir erleben einen beispiellosen Rückgang an zivilen und politischen Rechten, gepaart mit einer extrem schwierigen wirtschaftlichen Situation.
An der Wand des Redaktionsraumes von Mada Masr hängt einsam ein schon verblassendes Foto. Es ist eine Aufnahme aus jenen hoffnungsvollen 18 Tagen zwischen dem 25. Januar und dem 11. Februar 2011, als tausende Ägypter auf dem zentralen Tahrir-Platz campierten, demonstrierten, feierten, hofften und sich fürchteten. Bis Mubarak abtrat.
«Was vor zehn Jahren geschah, das bleibt in unseren Seelen und in unseren Köpfen eingraviert», so Lina Attalah, Mitbegründerin und Chefredaktorin des letzten unabhängigen Mediums in Ägypten. Sie sass im Gefängnis – wie mehrere Redaktionskolleginnen- und kollegen von Mada Masr auch – weil die Mächtigen es nicht gernhaben, wenn ihre Macht herausgefordert wird.
Doch Attalah denkt nicht daran, sich zu beugen: «Wir erleben einen beispiellosen Rückgang an zivilen und politischen Rechten, gepaart mit einer extrem schwierigen wirtschaftlichen Situation.»
Raum für unabhängige Stimmen wird kleiner
Am Tag, an dem wir mit Lina Attalah das Interview führen, wird bekannt, dass drei führende ägyptische Menschenrechtler der «Ägyptischen Initiative für Persönliche Rechte» (EIPR) nach ihrer Verhaftung wieder auf freien Fuss gesetzt wurden.
Dass sie überhaupt verhaftet worden waren, ist ein Skandal, denn ihr «Verbrechen» hatte darin bestanden, sich mit einem guten Dutzend westlicher Botschafter zu treffen, darunter auch dem Schweizer Vertreter. «Wir hatten gedacht, dass es trotz aller Repression immer noch einen kleinen Rahmen gibt, innerhalb dessen unabhängige Stimmen wie wir oder unsere Freunde von EIPR sich bewegen können.»
Doch der jüngste Unterdrückungsversuch beweist für Lina Attalah, dass «selbst dieser Rahmen immer noch kleiner wird». Aber sogar in diesem immer kleiner werdenden Bereich hat sich Lina Attalah ihre Träume erhalten: «Wir können dies gegenwärtig allerdings nur im kleinen, intimen Rahmen des Privaten ausdrücken.»
Arabischer Frühling als Beginn einer Epochenschwelle
Doch die massive Repressionswelle, mit der die Militärs in Ägypten vor dem zehnten Jahrestag des Arabischen Frühlings alles unterdrücken, was auch nur entfernt an jene Tage erinnert, zeigt, wie sehr die Mächtigen Angst haben, dass sich die Ereignisse des Arabischen Frühlings wiederholen könnten. Und tatsächlich begannen bereits 2018 neue Bewegungen im arabischen Raum, in Algerien, im Sudan, wo die Revolution im April 2019 Diktator Omar al-Bashir aus dem Präsidentenpalast fegte, im Irak oder im Libanon.
«Der Arabische Frühling hat trotz aller Rückschläge neue Massstäbe gesetzt bezüglich dessen, was wir von unseren Regierungen als Minimum akzeptieren.» Deshalb ist Arshid Adib-Moghaddam überzeugt, dass der Arabische Frühling kein einmaliges Ereignis war, sondern der Beginn einer Epochenschwelle, die den Nahen Osten in den kommenden Jahren gründlich verändern wird.