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Neun Jahre nach der Revolution In Tunesien ist Folter an der Tagesordnung

Tunesien feierte diese Woche den neunten Jahrestag der Revolution. Doch statt Jubel gabs Proteste. Oft lernen junge Leute den Staat von seiner negativen Seite kennen, wenn sie Probleme mit der Polizei bekommen.

Tunesische Gefängnisse sind kein angenehmer Ort. Alle Anstalten für Männer seien zu mindestens 150 Prozent überbelegt, kritisiert die nationale Instanz zur Verhinderung von Folter. Zudem gehöre Gewalt neun Jahre nach dem Ende der Diktatur zum Alltag.

Diese Beobachtung macht auch Psychologin Rim Ben Ismail: «Gewalt ist etwas Normales geworden. Sie wird geduldet und gerechtfertigt, weil die Polizei so zu Informationen kommt oder heikle Situationen bewältigen kann. Sie kennt keine andere Methode», sagt die Psychologin.

Opfer sehen Folter als normal an

Noch gefährlicher sei, dass selbst die Opfer ein bestimmtes Mass an Gewalt als normal empfinden. Wenn sie festgenommen, von Polizisten in einen Wagen gesteckt und geschlagen würden, betrachteten sie dies nicht als Folter sondern als normal.

Rim Ben Ismail forscht an der Universität Tunis über Gewalt. Sie sitzt im Büro der Weltorganisation gegen Folter (OMCT) im Stadtzentrum von Tunis, wo sie Opfer psychologisch berät. Darunter sind auch Patienten, die bereits den Gefängnisalltag während der Diktatur erlebt haben und mit den heutigen Verhältnissen vergleichen können.

Druckmittel administrative Kontrollen

«Nach dem Sturz der Diktatur liess die Gewalt für eine bestimmte Zeit nach. Darauf wurde sie wieder stärker, als wenn das Innenministerium die alten Karteien aus dem Schrank hervorgeholt hätte und die gleichen Personen beobachten und unter Druck setzen würde wie früher», so Rim Ben Ismael.

Dies gilt vor allem für die sogenannten administrativen Kontrollen. Damit hatte bereits die Diktatur unter Zine el-Abidine Ben Ali Oppositionelle unter besondere Beobachtung gestellt und unter Druck gesetzt. Zum Beispiel Personen, die bei der Polizei unter Terrorverdacht stehen, weil sie Bart oder traditionelle Kleider tragen oder deren Verwandte in den Dschihad nach Syrien oder Irak gereist sind.

So werden bei der Polizei fichierte Personen behandelt

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Die Weltorganisation gegen Folter hat dazu kürzlich einen Bericht veröffentlicht – mit Porträts von 20 Personen, die durch administrative Massnahmen in ihrer Freiheit eingeschränkt sind. Sie können zum Beispiel nicht ohne Bewilligung ins Ausland reisen, andere können sich nicht einmal innerhalb von Tunesien frei bewegen.

Wer bei der tunesischen Polizei fichiert ist, weiss dies oft selber nicht, heisst es in dem Bericht. Viele erfahren erst davon, wenn sie während einer Reise von der Polizei aufgehalten und nach der Kontrolle wieder nach Hause zurückgeschickt werden. Wer in der Kartei fichiert ist, muss sich meist regelmässig auf einem Polizeiposten melden.

Zu den administrativen Massnahmen gehört auch, dass sich die Polizei auffällig bei Nachbarn oder Arbeitgebern nach fichierten Personen erkundigt – mit dem offenkundigen Ziel, sie dort anzuschwärzen und in der Gesellschaft zu isolieren. Manche werden auch daheim von der Polizei besucht – oft nachts ohne Anmeldung und in der Regel ohne Beschluss eines Richters.

Ähnliche Methoden habe bereits die Diktatur angewendet, sagt die Psychologin. «Für die Opfer wird es zu einer Art Folter, wenn sie sechs oder sieben Mal in einem Jahr umziehen müssen, weil sie von der Polizei bei den Nachbarn oder dem Vermieter schlecht gemacht wurden und sie ihr Ansehen in der Gesellschaft oder die Arbeit verlieren.» Diese Art von Belästigung durch die Polizei führe zu sehr schwierigen Situationen.

Eine psychologische Folter

Von den Betroffenen würden administrative Massnahmen oft als härtere Strafe empfunden als Gefängnis. Man lebe zwar in den eigenen vier Wänden, sei aber in seinen Freiheiten eingeschränkt und dies oft ohne reguläres Verfahren, heisst es im OMCT-Bericht. Für die Betroffenen sei es psychologische Folter. Die physische Gewalt durch Polizisten und die psychologische Gewalt durch administrative Massnahmen lösten bei den Betroffenen Reaktionen aus, sagt Psychologin Rim Ben Ismael.

In meinen Gesprächen höre ich immer wieder die Aussage: ‹Ich will Polizisten töten.›
Autor: Rim Ben Ismael Psychologin in Tunis

«In meinen Gesprächen höre ich immer wieder die Aussage: ‹Ich will Polizisten töten.› Diese Menschen haben die Misshandlungen als so erniedrigend erlebt, dass sie sagen: ‹Ich kann unter diesen Umständen nicht mehr leben. Aber ich nehme dabei Polizisten mit in den Tod.›»

Die Forscherin kennt keine der Attentäter, die während der letzten Jahre in Tunis Selbstmordanschläge verübt haben. Aber diese Aussagen mögen erklären, warum manche Anschläge offenbar gezielt gegen Polizisten gerichtet waren.

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