Ein parteiloser soll Premier werden. Doch die tieferliegenden Probleme Tunesiens wird auch er kaum lösen können, sagt die Journalistin Sarah Mersch.
SRF News: Kommt mit der Nominierung des parteilosen, bisherigen Innenministers Hichem Mechichi als neuer Regierungschef in Tunesien Hoffnung auf ein Ende der Krise auf?
Sarah Mersch: Derzeit sieht es tatsächlich so aus. Die Reaktionen auf seine Nomination waren relativ positiv. Die Hoffnung ist gross, dass das Parlament seine Regierungsmannschaft bestätigen wird.
Wie kam es überhaupt zur Regierungskrise – bloss fünf Monate nach Amtsantritt?
Die Regierung war von Anfang an nicht sehr stabil. Es dauerte sehr lange, bis sie gebildet war, und ihr gehörten sehr unterschiedliche politische Kräfte an. Sie meisterte die Coronakrise relativ gut, gewann dadurch etwas Luft und begann eigentlich gut zu arbeiten.
Der bisherigen Regierung fehlte ein gemeinsames Fundament.
Doch im Hintergrund gab es immer wieder politische Streitigkeiten zwischen den beteiligten Parteien, es fehlte ganz offensichtlich an einem gemeinsamen Fundament. Als dann Korruptionsvorwürfe gegen den Regierungschef aufkamen, brach die Regierung sehr schnell auseinander.
Präsident Kais Saied hat bewusst einen Parteilosen mit der Regierungsbildung beauftragt und damit Vorschläge aus dem Parlament ignoriert. Wird seine Strategie aufgehen?
Dafür gibt es gute Chancen. Der parteilose Mechichi kennt die Verwaltung sehr gut und hat viele Vorschusslorbeeren erhalten. Auch wissen die Parteien im Parlament, dass ihnen die Bevölkerung kritisch gegenübersteht. Wenn das Parlament die neue Regierung nicht stützt, könnte Präsident Saied Neuwahlen ausrufen, doch das wollen die Parteien wohl verhindern. Denn bis auf eine Partei stehen alle anderen in den Umfragen schlechter da als bei den letzten Wahlen.
Wieso ist das tunesische Parlament derart zerstritten?
Seit der Revolution 2011 hat sich keine Partei als grosse, starke politische Kraft etablieren können. Wegen stetiger Abspaltungen und Neubildungen gibt es inzwischen über 200 Parteien im Land.
In Tunesien gibt es mehr als 200 Parteien.
Entsprechend existieren keine grossen Blöcke, die stabil zusammenarbeiten könnten. Im Parlament geht es denn auch oftmals nicht um Sachfragen, sondern um parteipolitische Streitereien. Und entsprechend instabil und wenig produktiv ist die Volksvertretung.
Wie reagiert die Bevölkerung auf diese Situation?
Immer mehr sind politisch frustriert und stellen inzwischen auch das demokratische System infrage. Die Wahlbeteiligung ist in den letzten Jahren denn auch stetig zurückgegangen. Tunesien leidet seit 2011 unter einer massiven Wirtschaftskrise, die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch. Ausländische Investoren fürchten die politische Instabilität und die weit verbreitete Korruption. Das lähmt die Entwicklung des Landes.
Was braucht es, dass die junge Demokratie zur Ruhe kommt?
Es braucht vor allem Perspektiven für die sehr junge Bevölkerung Tunesiens. Sie sieht, dass sich die Wirtschaft nicht entwickelt, dass sie nicht investieren und keine Projekte umsetzen kann.
Viele junge Tunesier sehen in ihrem Land keine Perspektive.
Viele junge Leute sagen, dass sich das tunesische System auch nach der Revolution von 2011 in seinem Innersten noch nicht reformiert hat: Probleme mit Verwaltungsangelegenheiten, mit der Polizei und die Korruption sind allgegenwärtig. Solange sich das nicht ändert, sehen sie in ihrem Land keine Perspektive. Und solange sich das Parlament vor allem um Posten streitet, statt dass es die Probleme des Landes angeht, wird sich Tunesien nicht stabilisieren können.
Das Gespräch führte Marlen Oehler.