Für die einen war Gorbatschow die Verkörperung von Wandel und Fortschritt, für die anderen war er Totengräber eines Imperiums und Zerstörer von Arbeitsplätzen. Niemand vor und nach ihm an den Schalthebeln der Macht in Moskau spaltete die Meinungen dermassen wie Michail Gorbatschow.
In Russland waren seine Befürworter seit seinem Rücktritt 1991 in der Minderheit. Im Westen hingegen war die Wahrnehmung eine völlig andere und man verlieh Gorbatschow nicht nur den Friedensnobelpreis, sondern verknüpfte mit ihm die Hoffnung auf einen Neuanfang nach sieben Jahrzehnten sowjetischem Totalitarismus.
Sein Blick nach vorne
In Russland verliert die Generation von Perestroika und Glasnost der 1980er-Jahre mit dem Tod des 91-Jährigen eine ihrer zentralen Figuren. Für jene, die den progressiven Idealen ihrer Jugend in Russland treu geblieben sind, stand Reformer Gorbatschow immer für ein offenes Russland und damit ein Russland, ganz entgegen den Vorstellungen des heute amtierenden Präsidenten Wladimir Putin.
Während der Blick von Putin oft rückwärts gerichtet ist, so galt der Blick von Gorbatschow in seinen aktiven Jahren als Politiker stets der Zukunft zugewandt.
Kein neues und würdiges Leben
Rückblickend hören sich seine Worte zum Abschied von der Macht vor mehr als 30 Jahren angesichts der gegenwärtigen Lage verzweifelt an. Damals richtete Gorbatschow seine Worte an die seit wenigen Monaten in Russland lebenden ehemaligen Bürger der Sowjetunion. «Es hängt jetzt von uns allen und von jedem einzelnen ab, dass unsere Zivilisation zu einem neuen und würdigen Leben erwacht.»
Dieses Erwachen ist Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion seither nicht gelungen. Mit dem Grossangriff von Wladimir Putin im Februar 2022 gegen die Ukraine scheint die Hoffnung auf ein solches Erwachen und auf ein würdiges Leben für weitere Jahrzehnte völlig ausgeschlossen.
Auseinandersetzung mit Unangenehmem
Gorbatschow mag sich in den vergangenen Jahren zu einem innenpolitischen Fliegengewicht entwickelt haben, und doch spiegelt sich an seinem Schicksal das Schicksal von Millionen von Einwohnern der Sowjetunion. Geboren in eine arme Bauernfamilie, gab es in seinem engsten familiären Umfeld Opfer von stalinistischer Repression. Eine Kindheit, die ihm eine verklärte Sicht auf die Sowjetunion später unmöglich gemacht zu haben schien.
Es ist dieses Bewusstsein der eigenen Fehlbarkeit, welches der gegenwärtigen russischen Regierung völlig entgeht. Eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit hat Wladimir Putin in den vergangenen Jahren unmöglich werden lassen, wohl wissend, dass kritische Fragen zu vergangenen Regierungen in kritischen Fragen zur gegenwärtigen Regierung münden könnten.
Begräbnis der Hoffnung
So wird mit dem 91-jährigen Michail Gorbatschow nicht nur der erste und letzte Präsident der Sowjetunion zu Grabe getragen, sondern mit ihm auch die Hoffnung all jener, die nach dem Ende der Sowjetunion 1991 auf einen echten Wandel hofften.
Das Schweigen Gorbatschows zum Grossangriff von Wladimir Putin gegen die Ukraine kann ihm nun nicht länger als Komplizenschaft vorgeworfen werden. Über seinem Grab werden sich seine Gegner und seine Unterstützer in Russland kaum die Hände zur Versöhnung reichen. Ausländische Gäste dürften den umständlichen Weg ins heute abgeschottete Russland kaum auf sich nehmen. Aller Befürwortung im Westen zu seiner Politik von einst zum Trotz.