Dass die Parlamentswahlen im Libanon überhaupt stattfanden, grenzt an ein Wunder. Der Mittelmeerstaat versinkt spätestens seit der Explosion am Hafen von Beirut 2020 nämlich im Mittelalter: Die Bevölkerung von geschätzten 6.7 Millionen hat kaum Strom, Internet, Zugang zu Medikamenten, viele hungern, weil ihre Löhne wegen der horrenden Inflation nichts mehr wert sind. Die Ersparnisse des Volkes sind im Korruptionssumpf verschwunden, mehr als 80 Prozent der Bevölkerung sind arm.
Wer sich unter diesen Umständen überhaupt aufraffen konnte, am Sonntag zu wählen, brauchte eine gehörige Portion Idealismus, und Geld. Denn: Im Libanon müssen die Wahlberechtigten in ihrem Heimatort wählen, egal, wie weit dieser vom Wohnort entfernt ist. Angesichts dieser Misere war die «Hilfsbereitschaft» der alteingesessenen Polit-Clans unverfroren. Den Armen drückten sie ein paar wertlose Scheine der Landeswährung in die Hand, damit diese ihnen die Stimme gaben, und dafür an einem Tag genug zu essen hatten. Oder sie zauberten plötzlich Geld hervor, um Wahlwilligen den Benzintank für die Fahrt zur Urne zu kaufen.
Sogar Strom gab es am Wahltag – wenn auch nicht überall die versprochenen 24 Stunden. Vielerorts mussten die Stimmen im Taschenlampenlicht ausgezählt werden. Und wer gegen die alte Garde antrat, wurde schon im Vorfeld eingeschüchtert, zum Teil massiv, mit Waffengewalt. Trotzdem fanden die Wahlen statt, und ein Teil des Klientels der übermächtigen Parteichefs hatte den Mut, gegen diese anzutreten und gegen diese zu stimmen.
Ein winzig kleiner Hoffnungsschimmer
Bereits am späten Abend des Wahltages zeichnete sich das Resultat ab, welches das libanesische Innenministerium zwei Tage später nun bestätigt hat. Die mächtige schiitische Hisbollah und die mit ihr verbundene christliche Partei des libanesischen Präsidenten Michel Aoun haben ihre Parlamentsmehrheit verloren. Sitzgewinne verbuchten 16 Kandidierende, die gegen die politischen Clans antrat, die das Land seit dem Bürgerkrieg der 1970er und 80er Jahre im Griff haben; darunter auch ein Kandidat, der im Hisbollah-Hoheitsgebiet im Süden gewann – aller Einschüchterung zum Trotz. Für den libanesischen Präsidenten besonders bitter: die Forces Libanaises, gegen die er noch selbst als Milizenführer im Bürgerkrieg gekämpft hatte, haben nun seine Partei als stärkste christliche Kraft überholt.
Seit der Wahlnacht mischt sich in Beirut und anderen Landesteilen das Geknalle von Feuerwerken und Schüssen. Die Freude der einen ist für die anderen eine Provokation. Die Verlierer werden nicht klein beigeben, schon gar nicht die Hisbollah. Sie bekommt ihre Befehle und ihr Geld von Iran, und bestimmt ihren Kurs gar nicht unabhängig. Auch der Rest der alten politischen Garde verteidigt lieber ihre Macht, als jetzt schnell eine funktionsfähige Regierung zu bilden, die Libanon aus dem Abgrund holt. Zur Rechenschaft gezogen wird diese Garde eh nie. Selbst, wenn sie Salz auf die alten Bürgerkriegswunden streut und Hass schürt, damit die alten Feinde wieder aufeinander losgehen. Ein Land zerstören ist immer einfacher, als eines zu bauen.
Und trotzdem: die Libanesinnen und Libanesen, die nicht wollen, dass ihr Land zurück ins Mittelalter und in den Bürgerkrieg fällt, haben sich Gehör verschafft. Wenn jemand aus einem kleinen Hoffnungsschimmer etwas machen kann, dann die Libanesinnen und Libanesen.