Auch fast eine Woche nachdem Joe Biden zum Sieger der Präsidentschaftswahl ausgerufen wurde, wollen Donald Trump und seine Anhänger die Wahl Bidens nicht anerkennen. Sie sprechen von Wahlbetrug im grossen Stil, obwohl sie dafür bislang noch keine Beweise vorlegen konnten.
Damit schaffe Präsident Trump eine historisch gesehen einmalig gefährliche Situation, sagt Historiker Sean Wilentz, Professor an der renommierten Princeton Universität. Zehn US-Präsidenten seien bisher abgewählt worden, aber alle hätten die rechtmässige Wahl ihrer Nachfolger anerkannt.
Selbst nach der umkämpften Präsidentenwahl im Jahr 1860, die in den Bürgerkrieg mündete, warb der unterlegene Stephen Douglas öffentlich dafür, seinen Widersacher Abraham Lincoln als rechtmässigen Präsidenten anzuerkennen und zu unterstützen. Um seine Loyalität zum demokratischen Prozess zu unterstreichen, begleitete er Lincoln sogar demonstrativ zu dessen Amtseinführung.
Kein Vergleich mit dem Fall Gore vs. Bush
140 Jahre später – im Jahr 2000 – kam es letztmals zu einer umstrittenen Wahl: Im alles entscheidenden Bundesstaat Florida lagen damals Al Gore und George W. Bush nur wenige Hundert Stimmen auseinander. Es kam zu Nachzählungen. Schliesslich entschied das Oberste Gericht die Wahl.
Erst nach 36 Tagen gestand Al Gore seine Niederlage ein. Doch diese Situation könne man nicht mit der heutigen vergleichen, sagt Wilentz mit Nachdruck: Damals sei es nur um wenige Hundert Stimmen gegangen, in einem einzigen Staat, der die Wahl entschied. Jetzt hingegen habe Trump in mehreren Staaten einen Rückstand von Zehntausenden von Stimmen – einen Rückstand, den er mit Klagen und Nachzählungen nicht mehr aufholen könne.
Vor allem aber habe Gore im Jahr 2000 nicht die Rechtmässigkeit der Wahl an sich infrage gestellt, so Wilentz. Trump dagegen behaupte – ohne Beweise liefern zu können –, ihm werde der Sieg gestohlen. Mit seinen fabrizierten Betrugsvorwürfen untergrabe er das Vertrauen in die Wahlen.
Und er verstosse gegen einen Grundsatz der US-Demokratie: dass die unterlegene Partei vorbehaltlos den Machtübergang einleite. Man könne nicht mehr von einer funktionierenden Demokratie sprechen, wenn Teile der Bevölkerung den neuen Präsidenten nicht als rechtmässiges Staatsoberhaupt anerkennen, weil sie glaubten, er sei nur durch Betrug ins Amt gekommen.
Appell an die Republikaner
Deshalb müsse die Führung der republikanischen Partei nun Verantwortung übernehmen. Denn diese wisse, dass Trump verloren habe, sagt der Historiker. Ohne die Unterstützung durch die Republikaner sei Trump isoliert. Deshalb müssten die republikanischen Parteiführer den Sieg Bidens nun anerkennen. Nur so könnten sie die US-Demokratie vor Schaden bewahren.