Italien ist sich grosse Mafia-Prozesse gewohnt. Doch der neueste sprengt die gewohnten Dimensionen: 355 Angeschuldigte stehen vor Gericht. Sie alle sollen der kalabrischen Mafia, der 'Ndrangheta, angehören. Jahrelang hatte die italienische Justiz für diesen Prozess ermittelt. Ein wichtiger Schlag gegen die organisierte Kriminalität.
Die Behörden bauten eigens ein bestehendes Bürogebäude um. Damit dieser Prozess trotz Corona mit genügend Abstand und damit sicher stattfinden kann. In diesem «Bunker», wie ihn italienische Medien nennen, müssen die Angeschuldigten vor dem Richter erscheinen.
Die Mafia und ihre Helfer
Zu ihnen gehören Unternehmer, ehemalige Parlamentarier, ein Ex-Bürgermeister, ehemalige Polizisten oder Advokaten. Die Liste der ihnen zur Last gelegten Vergehen ist lang: Mord, versuchter Mord, Entführung, illegaler Waffenbesitz, Bestechung, Korruption und vor allem: Drogenhandel.
Nicola Gratteri, der leitende Staatsanwalt, hat die langwierigen und aufwändigen Ermittlungen geleitet. Gratteri sagt: mit diesen 355 Angeklagten sitze die gesamte Führungsriege der lokalen Mafia auf der Anklagebank: «Wir haben sämtliche Entscheidungsträger der diversen 'Ndrangheta-Clans in der Provinz Vibo Valentia festnehmen können», sagt der Mafia-Jäger.
Weltweit aktive Mafia-Organisation
Dass unter den Angeklagten auch hohe Beamte oder Parlamentarier sind, zeige, wie eng in Kalabrien Staat und organisiertes Verbrechen verflochten seien. «Vor allem die Familie Mancuso hat in der Provinz Vibo Valentia wichtige Teile des Staates unterwandert.»
Gemäss Staatsanwalt Gratteri ist die kalabrische 'Ndrangheta die gefährlichste Mafia überhaupt: Auf allen Kontinenten sei sie präsent und wickle jedes Jahr illegale Geschäfte in der Höhe von mindestens 50 Milliarden Euro ab, sagt Gratteri, der seit Jahren unter strengem Polizeischutz lebt.
Verurteilt das Gericht in diesem wohl Jahre dauernden Prozess die Angeklagten tatsächlich, dann hätte der Staat zumindest in der Provinz Vibo Valentia die Mafia erheblich geschwächt.
Nicht mehr als ein Etappensieg
Gleiches kann man allerdings von anderen kalabrischen Provinzen nicht sagen. Dort ist deren Macht ungebrochen. Und auch in Vibo Valentia besteht die Gefahr, dass andere mafiöse Clans das durch die Verhaftungen entstandene Vakuum bald einmal füllen.
Zudem spielt die Pandemie dem organisierten Verbrechen in die Hände. Wegen Corona steht vielen Unternehmern das Wasser bis zum Hals. Das eröffne dem organisierten Verbrechen ungeahnte Möglichkeiten, sagen Experten. Über vermeintlich günstige Kredite schleiche sich die Mafia in Not geratene Firmen ein und mache deren Besitzer so dauerhaft von sich abhängig.
Nimmt man das alles zusammen, ist der Prozess, der in Lamezia Terme beginnt, allenfalls ein Etappensieg.