In Syrien ist es in den letzten Tagen zu einem Gewaltausbruch gekommen. Die Rede ist von mehreren Hundert zivilen Opfern, die von Milizen und Sicherheitskräften der neuen Regierung getötet wurden. Nahost-Korrespondent Thomas Gutersohn erklärt, was man bisher weiss.
Was ist zum Hergang der Ereignisse bekannt?
Am Donnerstag haben Sicherheitskräfte eine Razzia durchgeführt bei einer gesuchten Person, welche mit Baschar al-Assad in Verbindung stand. Dabei kam es zu einem Schusswechsel, bei dem Dutzende der Sicherheitskräfte ums Leben kamen. Diese Nachricht hat in den sunnitischen Zentren im Land regelrecht eine Rachewelle ausgelöst. Heerscharen von bewaffneten Milizen und militanten Männern sind in die alawitischen Dörfer an der Küste gezogen und haben – wie es nun danach aussieht – ein Massaker angerichtet.
Wie viele Zivilisten kamen bisher ums Leben?
Wie viele Zivilisten dem jüngsten Gewaltausbruch zum Opfer fielen, darüber gibt es keine gesicherten Informationen. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London geht von 1000 Menschen aus. Andere Quellen, wie etwa das Syrische Netzwerk für Menschenrechte, sprechen von 300 Personen. Sicher aber ist es die schlimmste Gewalteskalation in Syrien seit dem Sturz des Assad-Regimes. Zum Opfer gefallen ist dem Hass vor allem der arme Teil der Alawiten, darunter auch Kinder.
Warum hat sich die Wut auf die Alawiten gerade jetzt derart entladen?
Die Alawiten sind zu einer Art Projektionsfläche des seit Jahrzehnten angestaunten Hasses gegen die Assad-Familie geworden, die ebenfalls der religiösen Minderheit der Alawiten angehört. Die Assads haben sicherlich einen Teil der Alawiten in Militär oder Verwaltung gefördert. Somit sind die Alawiten heute das sichtbarste Element des alten Repression-Apparates. Doch es waren bei Weitem nicht alle Alawiten Teil dieses Machtapparates. Gerade in den nun betroffenen Dörfern leben nicht unbedingt die alten Generäle und Gefängnisleiter, sondern hauptsächlich alawitische Bauern, die bewusst von der Assad-Diktatur ebenfalls unterdrückt und arm gehalten wurden. Jene aber, die wirklich mit der Repression und der Folter unter Assad in Verbindung standen, sind ausser Landes oder verschanzen sich mit eigenen Milizen in ihren Villen.
War eine solche Entwicklung zu erwarten?
Obschon Syriens Übergangspräsident Achmed al-Scharaa sagte, die aktuelle Entwicklung bewege sich im Rahmen «erwartbarer Herausforderungen», waren Ausschreitungen mit mehreren Hundert, vielleicht sogar Tausend Toten auch im syrischen Kontext nicht vorauszusehen. Die syrische Übergangsregierung will die Ereignisse nun von einer unabhängigen Kommission untersuchen lassen.
Was kann die Übergangsregierung tun?
Gerade bezüglich der Alawiten steckt sie im Dilemma. Unter der Assad-Diktatur waren die sunnitischen Zentren die Orte, an denen die schlimmsten Kriegsverbrechen verübt wurden, mit Massenexekutionen und dem Einsatz von Chemiewaffen. Wenn sich nun Übergangspräsident Achmed al-Scharaa für die Alawiten stark machen würde – gegen die Sunniten – würde er als Vertreter der alten Gesellschaftsstruktur dastehen. Damit käme er bei seiner eigenen Gefolgschaft sehr schlecht an. Al-Scharaa ist nach wie vor angewiesen auf die sunnitischen Milizen im Land, denn bisher konnte er sie noch nicht alle in eine nationale Armee eingliedern. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als mahnend solche Geschehnisse zu verurteilen, obwohl die Situation über das Wochenende klar ausser Kontrolle geraten ist.