In zahlreichen Videos aus Latakia sind Schüsse zu hören. Die Stadt an der Mittelmeerküste ist zu einem grossen Teil von Alawiten bewohnt. Es ist dies jene Glaubensrichtung, der auch die frühere Herrscherfamilie der Assads angehört.
Wie genau die Situation an der Küste Syriens über Nacht eskalierte, ist unklar. Sicher ist nur, dass sie eskaliert ist. Angeblich soll es in einem alawitischen Dorf ausserhalb von Latakia zwischen Assad-Loyalisten und den Sicherheitskräften der neuen Regierung zu Ausschreitungen gekommen sein.
Die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte geht von mehr als 200 getöteten Menschen aus – darunter sollen zahlreiche Zivilisten sein. Sie spricht von einem Massaker an der alawitischen Minderheit.
Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa wandte sich am Freitagabend an die Bevölkerung. Überbleibsel der gestürzten Ex-Regierung hätten versucht, «das neue Syrien zu testen». Wer Übergriffe gegen Zivilisten begehe, werde bestraft.
Rufe nach Rache an den Alawiten
Es sind dies nicht die ersten Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der religiösen Minderheit der Alawiten und den mehrheitlich sunnitischen Sicherheitskräften der neuen Machthaber im Land.
Doch es sind bei weitem jene mit der grössten Tragweite: «Gebt uns Waffen und schickt uns an die Küste», hört man in Sprechchören aus den sunnitischen Zentren im Land. Aus den Lautsprechern einiger Moscheen soll sogar zum Heiligen Krieg aufgerufen worden sein. Die Stimmung im Land ist mehr als angespannt.
Milizen durchsuchen Häuser nach Waffen, junge Männer werden auf Pickups abtransportiert.
Die syrische Regierung des einstigen Rebellenführers Ahmad al-Scharaa hat jetzt tausende ihrer Milizionäre in die Küstenstädte Latakia und Tartus geschickt. Von dort schildert ein alawitischer Anwohner, was er von seinem Fenster aus beobachten konnte: «Ich bin durch Schüsse geweckt worden. Jetzt durchsuchen die Milizen Häuser nach Waffen. Junge Männer werden auf Pickup-Trucks abtransportiert.»
Sein Haus sei verschont geblieben, sagt Hassan, der nur mit seinem Vornamen erwähnt werden möchte. Dennoch habe er Angst: «Im Moment geht es uns gut – doch wer weiss, was in den nächsten Stunden passiert.»
Lokal organisierte Assad-treue Kämpfer
Das Assad-Regime stützte sich während des Krieges mitunter auf ein Netzwerk alawitischer Milizen, die lokalen Machthabern treu ergeben waren. Die dezentrale Organisation dieser Milizen macht es Syriens neuen Herrschern schwer, sie vollständig zu zerschlagen.
Die Streitkräfte des ehemaligen Regimes wurden aufgefordert, ihre Waffen abzugeben. Doch nur ein Teil ist diesem Aufruf gefolgt.
Ich bin bald 27 Jahre alt und habe noch nichts im Leben erreicht – wegen des Kriegs.
Das Misstrauen zwischen den Religionsgemeinschaften sei noch immer gross, sagt der Aktivist Hassan aus Tartus. Wer der neuen Regierung nicht traue, sei aber nicht automatisch ein Assad-Sympathisant. Sie alle hätten genug vom Krieg, beteuert Hassan: «Ich bin bald 27 Jahre alt und habe noch nichts im Leben erreicht», sagt er. «Wegen des Kriegs.» Er wolle ein Leben, er wolle Frieden.
Eine schwierige Aufgabe
Doch der Weg dahin ist steinig. Auch im Süden Syriens kam es in den letzten Tagen zu Gefechten zwischen verschiedenen Milizen und den Regierungskräften.
Die neue Führung in Damaskus muss diese Spannungen im Land dringend abbauen. Andernfalls dürfte die Aufgabe, aus den Trümmern des durch das Assad-Regime zerstörten Staates eine neue Nation aufzubauen, noch schwieriger werden, als sie es ohnehin schon ist.