Der Sturz des Langzeitmachthabers Baschar al Assad hat Syrien auf den Kopf gestellt. Das bekommen nun vor allem jene zu spüren, die teilweise vom früheren Regime profitierten.
«Die Alawiten, welche zuoberst in der gesellschaftlichen Rangordnung standen, wurden nach unten geworfen und die sunnitische Mehrheit im Land steht jetzt an ihre Stelle», sagt Joshua Landis. Er Leiter des Zentrums für Nahoststudien an der Universität von Oklahoma.
Das sei aber nicht nur für die Alawiten eine schwierige Ausgangslage, sondern auch für andere Minderheiten, so Landis weiter: «Die Christen, die Drusen, die Ismailis und zu einem gewissen Grad auch die Kurden haben die Obrigkeit der alawitischen Herrscherfamilie Al-Assad unterstützt – aus Angst, von der sunnitisch-arabischen Mehrheit unterdrückt zu werden.»
Verlangen nach Rache gegen vermeintliche Assad-Profiteure
Unter dem Assad-Regime blieb ein grosser Teil der Alawiten dennoch arm, oft war das Militär oder die Verwaltung ihre einzige Möglichkeit für eine Karriere. Das wird ihnen nun zum Verhängnis, sagt Landis. Es gebe ein tiefes Verlangen nach Rache und Gerechtigkeit in Syrien, das sich nicht nur gegen die alte Führung richtete, sondern gegen die Alawiten im Allgemeinen.
Ihnen werde als Gemeinschaft eine Mitschuld an der Unterdrückung des Assad-Regimes unterstellt. «Wenn die Milizen Häuser von Alawiten durchsuchen, artet das nicht selten in Lynchjustiz aus. Ein grosser Teil der Gesellschaft toleriert das. Die Menschen sagten, es geschehe ihnen recht».
Diese gesellschaftlich teilweise gebilligte Selbstjustiz wird zunehmend zur Herausforderung für die neue Regierung in Damaskus.
Milizen arbeiten im Moment quasi autonom.
Der Rebellenführer und seit letzter Woche auch Präsident Syriens, Ahmad Al-Sharaa, predigt zwar den Schutz der Minderheiten. Doch fehlen ihm die Mittel, um gegen solche Übergriffe vorzugehen.
Landis macht vor allem von der Türkei finanzierte Milizen für die Übergriffe verantwortlich, die gemeinsam mit Sharaas HTS-Miliz gekämpft hatten. «Diese Milizen-Gruppen arbeiten im Moment quasi autonom in Syrien. Solange sie nicht in eine nationale Armee unter der Führung der neuen Regierung eingegliedert werden können, hat der neue Präsident wenig Kontrolle über diese Milizen».
Viele, gerade in den ländlichen Gebieten, trauen sich nicht mehr aus dem Haus.
Denn würde die Regierung dagegen vorgehen, droht ihr der Vorwurf, Profiteure des Assad-Regimes zu schützen. Eine heikle Situation, die diese Milizen ausnützten, die aber auch rasch ausser Kontrolle geraten könnte, so Landis.
Sorgen unter den Alawiten
Dies löst wiederum bei den Alawiten Sorgen aus. Joshua Landis ist mit einer syrischen Alawitin verheiratet und kennt die Stimmung. «Viele, gerade in den ländlichen Gebieten, trauen sich nicht mehr aus dem Haus. Andere fürchten um ihre Arbeit oder ihre Pension – denn auch das ist mit der neuen Führung nicht garantiert».
Doch die Ängste der alawitischen Minderheit sind offenbar zurzeit keine Priorität in Damaskus. Landis fordert, die neue Regierung müsse bald Klarheit schaffen: darüber, wen genau sie beschuldigt, bei den Gräueltaten der Assad-Ära mitgeholfen zu haben, und wen nicht.
Nur so könne der Generalverdacht, unter dem die alawitische Gemeinschaft stehe, aufgelöst werden. Dies wäre ein erster Schritt hin zu einem Syrien, das Minderheiten mit einbezieht, wie von der neuen Regierung versprochen.