Die EU und ihre Mitgliedstaaten sollen vor Gericht für den Tod tausender Migranten im Mittelmeer zur Verantwortung gezogen werden. Das fordert eine Gruppe von Menschenrechtsanwälten. Sie haben beim Internationalen Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag eine Anklageschrift eingereicht.
Demnach patrouillierten die Schiffe der Operation Triton unter Führung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex bewusst nicht direkt vor der libyschen Küste, wo die seeuntauglichen Boote der Migranten ablegten: «Das Ziel dieser neuen Strategie war, das Leben vieler Menschen zu opfern, um das Verhalten von noch mehr Menschen zu ändern», schreiben die Menschenrechtler.
Im Dokument steht weiter: Europäische Politikerinnen und Politiker hätten wissentlich die tödlichste Migrantenroute der Welt geschaffen. Um Migranten von Europa fernzuhalten, setze die EU auf Camps in Libyen, die an Konzentrationslager erinnerten. Dort würden schreckliche Verbrechen begangen – im Wissen der EU.
Politischer Appell oder ernsthafte Anklage?
Die Vorwürfe wiegen schwer. Doch macht es überhaupt Sinn, eine Institution vor den ICC zu ziehen? Für Sabine Gless, Strafrechtsprofessorin an der Universität Basel, ist der eigentliche Sinn der Anklage, Aufmerksamkeit für die prekäre Situation der Flüchtlinge und Migranten in Libyen zu erregen.
Für die Strafrechtlerin handelt es sich eher um eine symbolische Aktion. Denn vor dem ICC können nur natürliche Personen angeklagt werden: «Staaten oder Regierungen aber nicht.» Denkbar sei zwar, dass die Vorwürfe auf Einzelpersonen zurückgeführt werden können.
Wenn jemand sein Amt missbraucht, um ein Verbrechen zu begehen, das unter die Gerichtsbarkeit des ICC fällt, kann er vor Gericht gestellt werden.
Voraussetzung dafür wäre eine Voruntersuchung. Diese werde aber jeweils von Staaten oder dem UNO-Sicherheitsrat angeregt: «Man wollte damit vermeiden, dass alle möglichen Sachverhalte von Einzelpersonen an den ICC getragen werden», erklärt Gless. Andernfalls drohte der Strafgerichtshof von der Arbeitslast erdrückt zu werden.
Hohe Hürden für Anklage
In dem Schriftstück der Menschenrechtsanwälte werden tatsächlich einzelne Staatschefs erwähnt und zitiert, so etwa der französische Präsident Emmanuel Macron und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die Hürden dafür, dass sich diese dereinst vor dem ICC verantworten müssen, seien aber sehr hoch, so die Professorin.
«Staatsoberhäupter geniessen Immunität solange sie im Amt sind, und grundsätzlich auch danach für alles was, sie während ihrer Amtszeit getan haben», sagt Gless. Allerdings gebe es berühmte Ausnahmen von dieser Regel: «Wenn jemand sein Amt missbraucht, um ein Verbrechen zu begehen, das unter die Gerichtsbarkeit des ICC fällt, kann er vor Gericht gestellt werden.»
Ein Ziel haben die Aktivisten erreicht
Wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit könnten – theoretisch – also auch europäische Staatschefs vor Gericht gestellt werden. Den Politikern müsste im konkreten Fall allerdings nachgewiesen werden, dass sie das Sterben im Mittelmeer mit voller Absicht herbeigeführt hätten.
Gestehen sie dies nicht selber ein, müsste der Nachweis anhand früherer Aussagen und Handlungen erbracht werden. Ungeachtet von juristischen Konsequenzen: Die Menschenrechtsanwälte hätten ein Ziel bereits erreicht, schliesst Gless: «Sie haben auf die Situation der Flüchtlinge aufmerksam gemacht und zum Nachdenken angestossen.»