Auf den griechischen Inseln spitzt sich die Situation in den Flüchtlingslagern dramatisch zu – aus der Türkei kommen wieder viel mehr Menschen in Booten. Zugleich droht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, das Flüchtlingsabkommen mit der EU platzen zu lassen. Wo die tatsächlichen Probleme liegen, weiss der Migrationsexperte Gerald Knaus.
SRF News: Der griechische Regierungschef Kyriakos Mitsotakis sagt, die Türkei versuche, die EU unter Druck zu setzen. Stimmt das?
Gerald Knaus: Die Türkei hat berechtigte Forderungen. Dass sie von Präsident Erdogan in gewohnt aggressivem Ton und auf die Innenpolitik abzielend vorgetragen werden, tut nichts zur Sache. Allein im letzten Jahr sind in der Türkei 200'000 syrische Flüchtlinge hinzugekommen – die meisten sind Kinder, die von Syrerinnen in der Türkei geboren wurden.
Die Vorwürfe gegen die Türkei stimmen zum jetzigen Zeitpunkt nicht.
Auf der anderen Seite sind bis Ende August bloss rund 6000 Syrer von der Türkei auf die griechischen Inseln gekommen. Griechenland hat vor allem Probleme, weil dieses Jahr viele Nicht-Syrer via Türkei ankommen – allein im August waren es 8000. Zum Vergleich: In der Türkei leben 3.6 Millionen syrische Flüchtlinge und mehrere hunderttausend Flüchtlinge und Migranten aus andren Ländern. Die Vorwürfe, die Türkei würde die Probleme in die EU auslagern, stimmen zum jetzigen Zeitpunkt deshalb nicht.
Funktioniert das Abkommen der EU mit der Türkei also doch?
Das Abkommen hat mehrere Teile: Einer davon ist, die Syrer in der Türkei direkt zu unterstützen. Dieser Teil funktioniert immer noch. Als Ergebnis kommen trotz der 3.6 Millionen Syrer in der Türkei kaum welche von ihnen nach Griechenland. In die Boote steigen aber Afghanen, Iraker oder Pakistaner. Für sie müssten die Griechen und die EU schnelle Entscheidungen treffen können, damit all jene, die keinen Schutz in der EU brauchen, in die Türkei zurückgebracht werden können. Doch das funktioniert auf griechischer Seite nicht.
Die Griechen schaffen es nicht, rasche Asylentscheide zu treffen.
Das Asylsystem in Griechenland steht vor dem Zusammenbruch, allein wird Griechenland das nicht schaffen. Wenn hier die EU nicht mithilft, das Problem in den Griff zu bekommen, wird das Abkommen möglicherweise tatsächlich platzen. Dann aber nicht wegen der Türkei, sondern wegen des Versagens in Griechenland und in der EU.
Ist das bestehende Abkommen zwischen der EU und der Türkei für die aktuelle Situation falsch ausgelegt?
Das Problem besteht eher darin, dass die Einigung 2016 zu einem so raschen Rückgang der Menschen, die nach Europa kommen, geführt hat, dass in vielen europäischen Hauptstädten das Gefühl entstanden ist, alle Probleme seien gelöst. In den zwölf Monaten vor dem Abkommen kam eine Million Menschen über die Türkei nach Europa, in den zwölf Monaten nach der Einigung vom März 2016 waren es noch 26'000. Es zeigte sich, dass es eine Illusion war, zu glauben, die Griechen schafften die rasche Abarbeitung der bloss noch wenigen tausend Asylgesuche.
Ein Ende des Abkommens hätte katastrophale Folgen für die griechischen Inseln, für die Flüchtlinge, den Westbalkan und für die EU.
Damit dies tatsächlich möglich wird, müssen sich die europäischen Länder zusammentun und möglicherweise von der Schweiz lernen, wie man schnelle und trotzdem faire Asylverfahren durchführen kann. Doch bislang wurde in der EU noch kein einziger Schritt in Richtung einer solchen Innovation gemacht. Das ist aber dringend nötig – ansonsten droht das Abkommen mit der Türkei zu scheitern. Das hätte katastrophale Folgen für die griechischen Inseln, für die Flüchtlinge, den Westbalkan und für die EU.
Das Gespräch führte Beat Soltermann.