Der Ton ist rau in den USA. Auch bei den aktuellen Zwischenwahlen. Ex-Präsident Donald Trump, derzeit ohne Amt und Würden, streut auf seiner Social-Media-Plattform «Truth Social» Zweifel an der Rechtmässigkeit der Wahlergebnisse. Keine zwei Jahre nach dem Sturm aufs Kapitol ruft der abgewählte Präsident erneut zu Protesten auf.
Auch vor Angriffen auf Parteikollegen schreckt Trump nicht zurück. Dem Mann der Stunde der Republikaner droht er unverhohlen: «Ich weiss mehr über Ron DeSantis als jeder andere. Es sind nicht besonders schmeichelhafte Dinge», verkündete Trump bei Fox News.
Claudia Brühwiler lehrt an der Universität St. Gallen mit Schwerpunkt Amerika-Studien. Die intime Kennerin der politischen Prozesse in den USA stellt eine Verrohung der Sitten fest – und zwar von beiden Seiten. «Die Demokraten schiessen ebenfalls heftig. Auch Präsident Joe Biden, der einst als Einiger über die Parteigrenzen hinweg antrat.»
Nun vergreife er sich selbst regelmässig im Ton. «Biden verglich republikanische Politiker auch schon mit den übelsten Rassisten», so Brühwiler. «Auch die Art und Weise, wie der Präsident über das Oberste Gericht spricht, ist nicht besonders demokratisch.»
Eine Zäsur sieht die promovierte Staatswissenschaftlerin im Sturm aufs Kapitol vom 6. Januar 2021. Mit ihm erodierte für sie der Respekt vor den demokratischen Institutionen. «Das war ein Schock und hat gezeigt, wie verroht das politische Klima ist. Auch vor Gewalt wird nicht zurückgeschreckt.»
Bei den Zwischenwahlen wurden reihenweise republikanische Kandidaten in den Kongress gewählt, die Trumps Lüge der gestohlenen Präsidentschaftswahl weiterverbreiten. «Auch das ist hochproblematisch und verheisst nichts Gutes», sagt Brühwiler.
Politische Gewalt und deren Androhung sind eine Grundkonstante in der amerikanischen Geschichte.
Für schwerwiegender hält sie aber die Probleme, die in der politischen Kultur liegen. Konkret: «Der Gesetzgebungsprozess im Kongress ist aufgrund der enormen Polarisierung blockiert.» Tragfähige, breit abgestützte Lösungen sind rar geworden, es dominieren ideologische Grabenkämpfe. «Die Wertschätzung für die demokratischen Institutionen nimmt ab – durch die Politik, aber auch durch die Bevölkerung.»
Plädoyer für mehr Nüchternheit
Bei aller berechtigten Sorge über den Zustand der US-Demokratie ist Brühwiler aber überzeugt: «Allen Unkenrufen zum Trotz hält das System der ‹Checks and Balances› (dt. Gewaltenteilung).» Das zeigte sich für die Forscherin auch während Donald Trumps Amtszeit, dem Kritiker diktatorische Züge zuschrieben. «Er wurde mehrfach von Gerichten zurückgepfiffen und seine Dekrete für verfassungswidrig erklärt. Er hatte auch seine liebe Mühe, seine Partei im Kongress auf Kurs zu bringen.»
Mit Blick in die Geschichte plädiert die USA-Kennerin für eine insgesamt nüchternere Betrachtung. So fand etwa auch in den 1960er-Jahren ein enormer Umbruch in der politischen Landschaft der USA statt. «Manche Politologen gehen davon aus, dass wir jetzt wieder an der Schwelle eines neuen Parteiensystems stehen.»
Und auch politische Gewalt und deren Androhung sind in den USA nicht neu. «Sie sind sogar eine Grundkonstante der amerikanischen Geschichte.» Das beruhige zwar nur bedingt, schliesst Brühwiler. «Aber es hilft, ein etwas nüchterneres Bild dessen zu zeichnen, was sich derzeit abspielt.»