Was Russland in und mit der Ukraine vorhat, weiss wohl nur Präsident Wladimir Putin selber und sein engster Führungszirkel. Darüber lässt sich also bloss spekulieren. Abschätzen kann man hingegen, was Putin mit seinen militärischen Mitteln, mit den inzwischen geschätzten 180'000 Soldaten vor Ort tun kann. Grundsätzlich hat der Kreml vier sehr unterschiedliche Vorgehensalternativen:
Option 1: Die Vorsichtige
Mit dem Einmarsch in die Donbas-Region ist Putins Hunger bereits gestillt. Er kontrolliert nun das Grenzgebiet in der Ostukraine direkt, statt bisher indirekt über prorussische Separatisten. Allenfalls folgt bald die Annexion. Von den besetzten Gebieten und von Russland selber aus fährt der Kreml fort mit Nadelstichen gegen die Ukraine: Cyberangriffe, Terrorattacken, Propagandaoffensiven. Er destabilisiert mit geringem Aufwand die Ukraine politisch und schwächt sie wirtschaftlich. Und sorgt so dafür, dass sie keine Chance hat, Nato- oder EU-Mitglied zu werden.
Der Preis, den Moskau für diese Strategie zahlen muss: überschaubar. In den nun russisch besetzten Regionen ist die Bevölkerung russlandfreundlich. Gewisse ausländische Sanktionen nimmt Russland in Kauf, etwa die Nichtinbetriebnahme der Gaspipeline Northstream 2, Kontensperrungen und Reisesperren für Putin-Getreue.
Option 2: Der Mittelweg
Putins Expansionshunger ist nicht gestillt. Er lässt seine Truppen weitermarschieren. Sie erobern die ukrainischen Hafenstädte Mariupol und Odessa. So kontrollieren sie die ganze ukrainische Schwarzmeerküste und schlagen eine Brücke zu Transnistrien, dem bereits jetzt von Russland kontrollierten Teil Moldawien. Für die Ukraine wäre der wirtschaftliche Schaden gross. Für Russland der Preis höher als bei der Minimalvariante, aber verkraftbar. Im Süden der Ukraine, etwa in der Grossstadt Odessa, ist ein guter Teil der Bevölkerung prorussisch. Der Westen dürfte auch in diesem Fall nicht die ganz grosse Sanktionskeule schwingen.
Option 3: Ende der freien Ukraine
Die russische Armee erobert grosse Teile der Ukraine, allenfalls mit Ausnahme der Westukraine. Dort ist Russland verhasst: Mit beträchtlichem Widerstand wäre zu rechnen. Hingegen bringt Putin die ukrainische Hauptstadt Kiew unter Kontrolle. Die demokratisch gewählte Regierung von Wolodimir Selenski muss ins Exil. Einem solchen Angriff bis zum Dnjepr gehen Raketenangriffe und Luftbombardements voraus und massive Cyberangriffe; erst danach rücken die russischen Panzer vor.
Die ukrainische Armee böte Widerstand, ohne Blutvergiessen liefe der Vormarsch nicht ab. Doch das Gelände bietet keine topographischen Hindernisse. Die russischen Streitkräfte sind den ukrainischen weit überlegen: zahlenmässig und punkto Modernisierung und Organisationsgrad. Mehr als ein paar Tage, allenfalls Wochen halten Kiews Truppen kaum stand. Putin verzichtet aber darauf, die Ukraine dauerhaft zu besetzen. Er setzt in Kiew eine Marionettenregierung ein. Die Ukraine ist nicht länger ein freies, demokratisches Land, sondern wird zu einem zweiten Belarus, einem Satellitenstaat von Moskaus Gnaden. Bei diesem Szenario fallen die westlichen Sanktionen härter aus. Putin in die Knie zwingen, werden sie nicht.
Option vier: Die Maximalvariante
Russland erobert weite Teile der Ukraine und setzt sich dort dauerhaft fest. Das ganze Land gerät, wie zu sowjetischen Zeiten, unter Moskaus Kontrolle. In Putins Sichtweise ist die Ukraine ohnehin kein eigenständiges Land ist. Das Risiko für den Kreml ist beträchtlich. Weniger wegen der ukrainischen Streitkräfte oder der in diesem Fall sehr spürbaren westlichen Sanktionen. Hingegen weil sich Moskau in weiten Teilen des Landes Untergrundbewegungen und Partisanenkämpfern gegenübersieht. Sie setzen Russland zu. Es droht ein neuerliches Afghanistan-Trauma, wo Moskaus Statthalter nach blutigen Verlusten am Ende abziehen mussten.
Welche Option Putin wählt, hängt von seinem Machtwillen ab. Davon, ob er die Rückeroberung der Ukraine als sein politisches Vermächtnis sieht. Weniger entscheidend sind die Sanktionen. Zumal sich viele Länder diesen gar nicht anschliessen werden. Abseitsstehen könnten Indien, Brasilien, dazu viele autoritär regierte Staaten und vor allem China. Dank seiner wirtschaftlichen Macht ist es imstande, dafür zu sorgen, dass die Sanktionen für Russland aushaltbar sind. Genauso wie es seit Jahren das nordkoreanische Regime stützt.