Chinesische Regierungsdokumente bestätigen, dass Hunderttausende Uiguren in Umerziehungslagern einer Gehirnwäsche unterzogen werden. Beobachter sprechen von einem kulturellen Genozid in nie dagewesener Dimension. Für China-Kenner Kai Strittmatter geschieht in Xinjiang eines der grössten Menschenrechtsverbrechen unserer Zeit.
SRF News: Wie beurteilen Sie die Enthüllungen des internationalen Konsortium investigativer Journalisten?
Kai Strittmatter: Die Regierungsdokumente belegen erstmals, was Beobachter seit einigen Jahren beobachten. Peking hatte bislang immer behauptet, bei den Lagern handle es sich bloss um Schulen und Ausbildungszentren, in denen die Leute deradikalisiert würden und eine Berufsausbildung erhielten. Man wolle die Muslime so davon abhalten, extremistisch zu werden.
Könnte diese Rechtfertigung nicht auch plausibel sein?
Es hat in China in der Tat Terroranschläge von Uiguren gegeben. Allerdings gibt es auch eine jahrzehntelange Geschichte religiöser und kultureller Unterdrückung in der westlichen Provinz Xinjiang, wo hauptsächlich Muslime des Turkvolkes der Uiguren leben.
Peking stellt ein ganzes Volk unter Generalverdacht.
Wegen der verstärkten Repression kam es 2009 zu Unruhen in Urumqi, im Zuge derer mehr als 170 Menschen ums Leben kamen. Diesen Gewaltausbruch nahm Peking zum Anlass, um ein ganzes Volk unter Generalverdacht zu stellen. Inzwischen ist rund eine Million der insgesamt zehn Millionen Uiguren in Xinjiang in Lagern inhaftiert.
Wieso hat das bislang niemand entdeckt?
Es wurde zwar entdeckt, doch das Thema hat keine grosse Aufmerksamkeit erlangt. Die «Süddeutsche Zeitung» oder «Das Magazin» des «Tages-Anzeigers» brachten schon vor längerem Reportagen, in denen alles drinsteht. Dass das Thema jetzt eine solche Aufmerksamkeit erhält, liegt wohl daran, dass die Leugnung der Realität durch die chinesische Regierung dank der Regierungsdokumente nicht mehr möglich ist.
Ein Anruf ins Ausland reicht, damit ein Uigure im Umerziehungslager landet.
Hinzu kommt, dass Xinjiang sehr unzugänglich ist und Journalisten dort nicht arbeiten können. Die Uiguren selber können seit Jahren nicht mehr ins Ausland reisen. Und seit ein paar Jahren reicht ein Anruf eines Uiguren ins Ausland, um in einem Umerziehungslager zu landen. Entsprechend wenig Informationen lagen im Westen bislang vor.
Die Chinesen benutzen Big Data und neue digitale Überwachungsmethoden in Xinjang. Sie haben schon früher in einem Buch darüber geschrieben – wohin führt das alles noch?
Mit digitaler Hilfe erfindet sich die Diktatur in China gerade neu – mit Big Data und Künstlicher Intelligenz. Sie geht damit an Orte, an denen noch keine menschliche Herrschaft vor ihr war. Und alles, was die Chinesen an digitaler Überwachungstechnik umsetzen möchten, probieren sie zuerst in Xinjiang aus. Dort wird inzwischen die grösste Internierung einer religiös-ethnischen Minderheit seit der Nazizeit praktiziert – dort passiert gerade eines der grössten Menschenrechtsverbrechen unserer Zeit.
Xinjiang ist das chinesische Testlabor für Hightech-Überwachung.
Ausserdem ist Xinjiang das Testlabor für Hightech-Überwachung. 2017 sagte der chinesische Vizeminister für Technologie, dank «Predective Policing» (voraussagende Polizeiarbeit) wisse man schon jetzt, wer in Zukunft einmal Terrorist sein werde. Es ist kein Zufall, dass er das genau dann gesagt hat, als der Aufbau der Umerziehungslager begann.
Das Gespräch führte Samuel Wyss.