Pavlo geht langsam und sehr aufmerksam durch einen Markt in einem Kiewer Vorort. Er ist nicht zum Einkaufen gekommen. Der Soldat ist Mitarbeiter der Mobilisierungsbehörde und sucht Männer für die ukrainische Armee. Tag für Tag sind Pavlo und seine Kollegen auf den Strassen der Hauptstadt unterwegs.
Hinter ein paar Marktbuden spricht Pavlo einen Passanten an, fragt, ob sich dieser regelkonform gemeldet habe als potenzieller Dienstpflichtiger. Der Mann wird sichtlich nervös, zeigt nur widerwillig seine Dokumente.
Es stellt sich heraus: Der 41-Jährige hat sich vor der Armee versteckt. Er hat den Behörden nicht mitgeteilt, wo er wohnt und hat wohl gehofft, in Ruhe gelassen zu werden. «Ich stelle Ihnen eine Vorladung aus», sagt Pavlo und beginnt ein Formular auszufüllen. Der Mann muss sich in den nächsten Tagen in einem Rekrutierungszentrum melden. Ist er gesund, wird er mit hoher Wahrscheinlichkeit eingezogen.
Unterschiedliche Reaktionen
Der ukrainische Staat braucht Soldaten. Der Krieg gegen die russischen Aggressoren ist schon im dritten Jahr, jeden Tag gibt es viele Verletzte und Tote an der Front. Diese müssen ersetzt werden. Doch die Mobilisierungswelle ist unbeliebt, stösst auf Widerstand.
In sozialen Medien tauchen immer wieder Videos auf von Männern, die vor den Rekrutierern davonrennen. Auch Handgreiflichkeiten und Schlägereien gibt es immer wieder. Die Mitarbeiter der Mobilisierungsbehörde stehen im Ruf, rücksichtslos zu sein und zum Teil Gewalt einzusetzen.
Pavlo präsentiert sich ganz anders. Er geht stets freundlich und mit psychologischem Geschick auf die Männer zu. Er sagt: «Die Leute reagieren sehr unterschiedlich. Manche haben grosse Angst. Das ist verständlich, jeder hat Angst vor dem Krieg. Andere aber sagen: ‹Ich hab auf Euch gewartet, ich bin bereit, zu dienen.›»
Natürlich verstehe ich, wie die Lage ist im Land – und deswegen bin ich auch bereit zur Armee zu gehen.
Zu Beginn des Krieges war die ukrainische Gesellschaft geeint in ihrer Entschlossenheit, die russischen Aggressoren zu bekämpfen. Und auch jetzt gibt es noch Männer, die sich bereitwillig einziehen lassen. Einer der jungen Männer, die Pavlo und seine Kollegen ansprechen, heisst Jaroslaw. Er ist sogar einverstanden, seinen Dienst sofort anzutreten. «Ich war spazieren und wurde angesprochen. Natürlich verstehe ich, wie die Lage ist im Land – und deswegen bin ich auch bereit zur Armee zu gehen», sagt Jaroslaw. Zwei Polizisten bieten dem zukünftigen Soldaten einen Taxi-Dienst an – und fahren ihn gleich zum nächsten Rekrutierungszentrum.
So willig wie Jaroslaw sind allerdings die wenigsten. Als Pavlo einem weiteren jungen Mann eine Vorladung ausstellt, steht etwas abseits eine Frau und filmt das Geschehen. Sie sagt, sie fürchte, dass die Rekrutierer Gewalt anwenden gegen die Männer. Ganz generell hält sie nichts von der Mobilisierung: «Es ist nicht richtig, was die hier machen. Erst sollen diejenigen in die Armee gehen, die wirklich wollen. Aber diese Jungs hier – die wissen ja nicht mal, wie man eine Waffe hält. Sie wollen leben – sie wollen nicht sterben.» Einer ihrer Söhne sei an Krebs gestorben, sagt die Frau. «Die Heimat kann mich nicht zwingen, noch ein Kind zu beerdigen.»
Mühsame Suche nach neuen Soldaten
Solche Erlebnisse sind belastend für Pavlo. Er hat selbst an der Front gedient, unter anderem in der Schlacht von Bachmut gekämpft. Er ist mehrfach verwundet worden, einmal schwer. Umso härter für ihn zu sehen, was für Gräben sich in der Gesellschaft auftun. Über seinen Job bei der Rekrutierungsbehörde sagt er: «Es ist moralisch sehr schwer auszuhalten. Viele Leute fragen mich: ‹Warum bist Du nicht an der Front?› Dann sage ich: ‹Ich war ja dort.› Und dann antworten die: ‹Wir glauben Dir nicht.›»
Dieser Krieg ist für uns eine Frage des Überlebens. Wenn wir ihn verlieren, gibt es keine Ukraine mehr.
Es sei einfacher gewesen, an der Front zu dienen als hier im Hinterland, sagt Pavlo. Und doch tut er weiter Dienst, einen Dienst, den er für sehr wichtig hält. Denn: «Wir Ukrainer wollten diesen Krieg nicht. Aber nun ist er da. Und dieser Krieg ist für uns eine Frage des Überlebens. Wenn wir ihn verlieren, gibt es keine Ukraine mehr.»
Nach ein paar Stunden haben Pavlo und seine Kollegen vielleicht zwei Dutzend Männer überprüft, einem halben Dutzend haben sie eine Vorladung ausgestellt. Die Suche nach neuen Soldaten ist zäh geworden. Obwohl, oder gerade, weil der Krieg mit aller Härte weitergeht.