Die Zeitung «Cumhuriyet» gehört zu den wenigen Stimmen im Land, die die Politik der türkischen Regierung offen kritisieren. Schon länger war sie im Visier der Justiz. Führende Mitarbeiter der Zeitung sassen wegen «Unterstützung von Terrororganisationen» in Untersuchungshaft.
Am Mittwoch verurteilte das Gericht in Silivri bei Istanbul unter anderem Chefredakteur Murat Sabuncu und den Investigativjournalisten Ahmet Sik zu je siebeneinhalb Jahren Haft. Herausgeber Akin Atalay erhielt über acht Jahre.
Das Gericht sah es als erwiesen an, dass 13 der 18 Angeklagten Terrorgruppen, darunter die Gülen-Bewegung, unterstützt hatten. Das Urteil nach neunmonatigem Verfahren ist noch nicht rechtskräftig. Die Anwälte hatten schon davor angekündigt, Einspruch einzulegen.
«Cumhuriyet»-Chefredaktor Sabuncu sprach nach der Urteilsverkündung von einem «Anschlag» auf sämtliche Oppositionellen im Land. Prozessbeobachter zeigten sich überrascht ob der drakonischen Strafen: Sie hatten mildere Urteile erwartet.
Menschenrechts- und Journalistenorganisationen verurteilen die Unterdrückung missliebiger Stimmen. Amnesty International spricht von einer «gezielten Zerschlagung der Zivilgesellschaft»; Reporter ohne Grenzen erklärte, «Cumhuriyet» stehe symbolisch für den «mutigen Kampf gegen die beispiellose Verfolgung kritischer Journalisten in der Türkei»; das International Press Institute liess verlauten: «Über Nachrichten berichten ist kein Terrorismus.»
Die Medien in der Türkei stehen seit langem unter Druck. Nach Angaben der Nichtregierungsorganisation P24 sitzen mehr als 150 Journalisten in der Türkei im Gefängnis.
Auch für Ruth Bossart, SRF-Korrespondentin in der Türkei, sind die Urteile politisch motiviert: «In der heutigen Türkei ist die gesamte Justiz nicht nur stark politisiert, sondern auch ausgedünnt.»
So wurden nach dem gescheiterten Putsch von 2016 rund ein Fünftel der Staatsanwälte und Richter entweder entlassen oder festgenommen. Ihre Nachfolger seien häufig nicht nur jung und unerfahren, sondern vor allem stramm auf der Linie der Regierungspartei AKP.
Und von ganz oben gibt es «sanften Druck»: Präsident Recep Tayyip Erdogan machte in der Vergangenheit klar, was er von den Richtern im «Cumhuriyet»-Prozess erwartet. Öffentlich liess er mehrmals verlauten, dass die Journalisten für ihre Berichterstattung «hart büssen» müssten.
Viele kritische Bürger sind politikverdrossen: Sie haben die Hoffnung verloren, dass sich politisch bald etwas ändern könnte.
Für Bossart sind die drakonischen Strafen auch ein Signal an die gesamte türkische Medienlandschaft und Öffentlichkeit: «Die Botschaft geht etwa an Kioskbesitzer und Inserenten, und sie ist klar: Lasst die Hände von solch einer Zeitung, sonst kommt ihr selber in Schwierigkeiten.»
Laut der SRF-Korrespondentin wirken die Einschüchterungsversuche weit über die Justiz hinaus. Zwei Monate vor den Präsidentschaftswahlen, mit denen Erdogan seine Allmacht zementieren will, seien viele kritische Bürger politikverdrossen: «Sie haben die Hoffnung verloren, dass sich bald etwas ändern könnte.»
Das Klima der Angst habe mittlerweile die ganze Gesellschaft erreicht, sagt Bossart: «An Schulen und Universitäten etwa wagen es Rektoren nicht mehr, kritische Lehrpersonen oder Professoren anzustellen.» Auch, wer Friedenspetitionen rund um den Kurdenkonflikt unterschrieben habe, sei quasi kontaminiert.
Sogar meine Nachbarin hat Angst. Sie schaut immer zurück über ihre Schulter, bevor sie etwas regierungskritisches sagt.
Betroffen seien aber auch Menschenrechtsaktivisten, mit ihren missliebigen Berichten drohten sie wegen Unterstützung von Terrororganisationen verhaftet zu werden; schliesslich hüteten sich auch Umweltschützer, Prestigeprojekte der Regierung zu kritisieren.
Und längst sei auch der Alltag der Menschen betroffen, schliesst Bossart: «Sogar meine Nachbarin hat Angst. Sie schaut immer zurück über ihre Schulter, bevor sie etwas regierungskritisches sagt».