Auch wenn die Urteile im Prozess um die deutsche Neonazi-Gruppe NSU weitergezogen werden dürften – der grosse Gerichtsprozess ist erst mal überstanden. Doch es bleiben viele Fragen offen.
Für den Extremismus-Experten des Berliner «Tagesspiegels», Frank Jansen, bleiben vor allem die Versäumnisse der Strafverfolgungsbehörden im Dunkeln. In diesem Bereich sei weitere Aufklärungsarbeit zu leisten.
SRF News: Hat das Urteil angesichts der weiterhin offenen Fragen nicht einen schalen Beigeschmack?
Frank Jansen: Man kann sicher nicht sagen, dass man jetzt über alles Bescheid weiss – über die Strukturen der Terrorzelle NSU, ihr Umfeld, die Auswahl ihrer Opfer oder mögliche Helfer an den Tatorten. Es fällt schwer sich vorzustellen, dass die beiden Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt bei den Anschlägen ganz auf sich allein gestellt gehandelt haben. Sie sollen alles ausgespäht haben und von selber auf die Opfer gekommen sein.
Mehrere ihrer Mordopfer lebten in abgelegenen Gebieten – da fragt man sich, wie Mundlos und Bönhhardt darauf gekommen sind, sie anzugreifen. Das alles ist offen geblieben. Auch die Ausschüsse von Bundestag und Landtagen haben keine Klärung gebracht. Deshalb ist noch einiges an Aufklärungsarbeit zu leisten.
Wieso ist nicht alles aufgeklärt worden? Zumal im Prozess klar wurde, dass der Verfassungsschutz einiges versäumt hat?
Alle Sicherheitsbehörden – Verfassungsschutz, Polizei, Staatsanwälte und selbst der Innenminister – sind für Fehler und Versäumnisse verantwortlich. Sie alle haben bei den Ermittlungen zu den sogenannten Dönermorden, wie die Mordserie zwischen 2000 und 2007 zunächst genannt wurde, nicht das getan, was hätte getan werden müssen. Es kam so gut wie niemand auf die Idee, bei den Morden an den neun Migranten türkischer und griechischer Herkunft nach einem rassistischen Hintergrund zu fragen.
Es ist ein Irrsinn, dass der Verfassungsschutz das Problem, das er beobachten sollte, noch aktiv vergrössert.
Einen der grössten Fehler hat dabei der Verfassungsschutz in Thüringen gemacht, wo Mundlos, Böhnhardt und Beate Zschäpe herkamen. Der dortige Inlandsgeheimdienst führte in den 1990er-Jahren einen der Anführer der thüringischen Neonazi-Szene, Tino Brandt, als Spitzel. Gleichzeitig liess die Behörde zu, dass Brandt die rechtsextreme Szene aufbaute, strukturierte und zu teilweise schlagkräftigen Verbänden formte – und das mit dem Geld, das er vom Verfassungsschutz bekommen hatte. Es ist ein Irrsinn, der nicht passieren darf – dass der Verfassungsschutz das Problem, das er beobachten sollte, noch aktiv vergrössert.
Den Ermittlungsbehörden wurde der Vorwurf gemacht, auf dem rechten Auge blind zu sein. Wie berechtigt ist dieser Vorwurf?
Die Polizei hat bei den Ermittlungen zu den Morden an den neun Migranten sehr lange nur darauf geschaut, ob die Ermordeten oder ihre Familien in kriminelle Machenschaften verwickelt waren. Obwohl dabei nie belastende Spuren gefunden wurden, ging man dem jahrelang nach. Die Familien wurden mit falschen Verdächtigungen drangsaliert, Nachbarn und Freunde nach möglichen Drogen- oder kriminellen Verbindungen befragt. Damit wurden die Opferfamilien nach den Morden ein zweites Mal geschlagen.
Die Familien der Mordopfer wurden von den Ermittlern jahrelang mit falschen Verdächtigungen drangsaliert.
Vielmehr wäre es nötig gewesen, dass die Sicherheitsbehörden darüber nachgedacht hätten, ob die Täter nicht ein ganz anderes Motiv haben könnten, wenn man mit den Ermittlungen wegen möglicher krimineller Verstrickungen nicht weiterkommt.
Wieso haben die Behörden dies versäumt?
Das hängt wohl damit zusammen, dass man Türken eher ein kriminelles Motiv zugetraut hat und sich die Ermittler ein rassistisches Motiv eines Täters ausserhalb des türkischen Milieus nicht vorstellen konnten – oder wollten.
Mit dem Prozess war die Hoffnung verbunden, dass er ein Fanal gegen Rassismus setzen sollte. Ist sie erfüllt worden?
Nein. Das liegt auch daran, dass sich Deutschland in den letzten fünf Jahren stark verändert hat. Seit der sogenannten Flüchtlingskrise im Herbst 2015 erleben rechtspopulistische und teils rechtsextreme Bewegungen enormen Zulauf. Die AfD sitzt inzwischen in 14 der 16 Landtagen sowie im nationalen Parlament, dem Bundestag. Vor 2015 wäre das nur schwer vorstellbar gewesen.
Rassismus ist in weiten Teilen der Bevölkerung in Deutschland salonfähig geworden.
Der Geist ist also aus der Flasche, Rassismus ist in weiten Teilen der Bevölkerung salonfähig geworden. In dieser Situation hat ein so grosser und langer Prozess, der mit vielen Komplikationen wie Befangenheitsanträgen oder Streitereien zwischen Anwälten verbunden ist, nur noch wenig Strahlkraft, um die Leute zum Nachdenken zu bringen.
Bleibt von diesem Prozess – er war einer der grössten in der deutschen Nachkriegsgeschichte – etwas Positives übrig?
Mit dem Kraftakt des Rechtsstaats ist zumindest die strafrechtliche Verantwortung der Hauptangeklagten, Beate Zschäpe, geklärt worden: Sie war ein Mitglied der dreiköpfigen NSU-Terrorzelle. Zudem wurden vier Mitangeklagte zur Verantwortung gezogen. Es ist also eine Menge aufgeklärt worden, auch strafrechtlich. Doch das Ganze ist noch nicht vorbei. So laufen bei der Bundesanwaltschaft noch neun Verfahren gegen weitere Beschuldigte sowie ein Verfahren gegen Unbekannt. Ich hoffe, dass der jetzt beendete Prozess in der Sache nicht der letzte war und weitere Beteiligte verurteilt werden.
Das Gespräch führte Barbara Büttner.